Oh du fröhliches Weihnachts-Chaos!
Stresstest DezemberLeicht hat sie es nicht am Heiligen Abend, die Familie Moor aus dem Kultfilm „Single Bells“. „Die Mami hat gesagt, du sollst den Braten in Ruh’ lassen“, sagt Enkelkind Sissi zu Omama Mitzerl. Doch die Omama hat andere Pläne. „Ich tu’ ihm ja nicht weh – dem Braten“, antwortet sie deshalb pampig und macht sich mit viel Leidenschaft daran, den Vogel zuzubereiten. Eigentlich hatte Mutter Luiserl das Weihnachtsfest mit der Familie ja wirklich gut geplant. Es soll ein schönes Fest für alle werden – für die Kinder, für ihren Mann Jo und natürlich für die Omama. Aber dann gerät irgendwie alles aus den Fugen. Die Omama verbrennt den Weihnachtsbraten und Gregor, der Sohn des Hauses, der Vegetarier ist, weigert sich, die Karpfen zu kaufen, die als Ersatz dienen sollen. Luises Schwester Kati und auch ihre Mutter tauchen unangemeldet auf. Und dann fängt auch noch der Christbaum Feuer.
Weihnachts-Chaos und Stresstest
So dramatisch wie im Kultfilm „Single Bells“ aus dem Jahr 1997 mit Mona Seefried, Erwin Steinhauer, Inge Konradi und Johanna von Koczian in den Hauptrollen läuft es zwar in den meisten Haushalten nicht, aber manch einer wird sich in der einen oder anderen Szene des Films wohl durchaus wiederfinden.
Hohe Erwartungen tragen zum Weihnachts-Chaos bei
„Weihnachten – das ist schon eine ganz spezielle Zeit, auch was Konflikte und Krisen betrifft“, sagt Veronika Burtscher-Kiene, klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin. „Die Erwartungen, die mit dem Fest verbunden sind, sind enorm hoch und der Druck, unter dem wir stehen, damit auch.“ Schon davor, im Advent, könne man beobachten, wie sich die Anlässe summieren. „Und die Summe der Ereignisse allein erschlägt einen oft geradezu.“ Gefordert und gut beschäftigt sind dann natürlich alle Familienmitglieder. „De facto bleibt die meiste Arbeit – mit dem Fachausdruck Care-Arbeit genannt – aber immer noch an den Frauen hängen“, sagt Veronika Burtscher-Kiene. „Das Rollenbild in unserer Gesellschaft, wofür Frauen und Männer verantwortlich sind, ist viel tiefer verhaftet, als wir das oft wahrhaben wollen. Besonders im Advent und zu Weihnachten kommt dann zur Alltagsbelastung, die einmal mehr für Alleinerziehende oder Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen ohnehin oft viel zu hoch ist, der zusätzliche Festtagsstress dazu.“
Weihnachts-Chaos und Care-Arbeit
Care-Arbeit, das sei dabei jener Begriff, mit dem alle Fürsorgearbeit zusammengefasst werde. „Also alles, was jemand tut, wenn er sich um jemand anderen kümmert“, bringt es Veronika Burtscher-Kiene auf den Punkt. „Es geht um die gesunde Ernährung der Liebsten, genauso wie darum, Termine auszumachen und darauf zu achten, dass sie auch eingehalten werden oder um Tätigkeiten im Haushalt und um vieles mehr. Und: Es geht bei Care-Arbeit immer um die Fürsorge für jemand anderen – nie um mich selbst.“
Keine Pause für den Kopf
Mit der Care-Arbeit engstens verwoben sei dann auch der sogenannte Mental Load, die psychische Belastung, die dieses Sich-um-alles-Kümmern mit sich bringt. „Mit Mental Load bezeichnen wir die „normale“, alltägliche und intensive Belastung, keine Überlastung – das wäre das Burnout“, sagt Veronika Burtscher-Kiene. „Der Kopf macht einfach keine Pause mehr, es kehrt keine Ruhe mehr ein ...“
Care-Arbeit und auch Mental Load – das sei natürlich etwas, was immer da ist – aber es gibt schon eindeutig auch Momente, in denen es zu viel wird. „Und Advent und Weihnachten – das sind ganz besonders gute Beispiele für solche Momente.“
Die Erwartungen, die mit dem Fest verbunden sind, sind enorm hoch und der Druck, unter dem wir stehen, damit auch.
Die eigenen Grenzen finden beim Weihnachts-Chaos
Wie viel an Care-Arbeit man sozusagen aushält und ab wann es zu viel wird, das sei individuell. „Jeder Mensch hat da seine eigenen Grenzen und wo die liegen, muss man oft auch selbst einmal ausprobieren. Manchmal pack’ ich es besser, und manchmal nicht“, sagt Veronika Burtscher-Kiene. Ganz wichtig sei es dann, dass man es sagt, wenn es nicht passt. „Und spätestens dann müssen alle Familienmitglieder aufwachen und beginnen mitzudenken.“ Das Tückische an der Care-Arbeit und dem damit verbundenen Mental Load sei vor allem, dass man beides nicht sieht. Und das Anstrengende beim Mental Load sei meist gar nicht die Handlung an sich, sondern die Arbeit im Vorfeld. „Sich zu überlegen: Welche Hefte müssen besorgt werden? Brauchen die Kinder neue Schuhe? Was essen wir diese Woche?“, sagt Veronika Burtscher-Kiene. „Deshalb ist auch, ganz ehrlich gesagt, ein ,Warum sagst Du nichts?‘ – auch wenn es noch so aufrichtig und ehrlich gemeint ist, tatsächlich meist keine Hilfe.“ Die angesprochene Person teilt zwar dann die Arbeit auf, aber sie streicht sie meist trotzdem nicht von ihrer To-do-Liste und versucht im Blick zu behalten, ob alles auch wirklich gemacht wurde.
Aufgaben verteilen statt Weihnachts-Chaos
Wirklich helfen bedeutet damit klar, einzelne Zuständigkeiten tatsächlich komplett jemand anderem zu übertragen. „Damit ein großes Fest für eine Familie funktioniert, müssen sich alle zuständig fühlen“, sagt Veronika Burtscher-Kiene. Im Hinblick auf Weihnachten könnte das zum Beispiel heißen: Wir brauchen einen Christbaum – und derjenige, der sich um den Baum kümmert, kümmert sich dann um alles, was damit in Zusammenhang steht: Er sorgt dafür, dass es einen gibt, dass Kerzen da sind, Christbaumkugeln. Eben alles.
Das Wichtigste und gleichzeitig das Herausforderndste ist bestimmt, kritisch zu hinterfragen, ob das alles, was da gerade passiert, wirklich notwendig ist.
Stress ist nicht immer nur schlecht
Wie wichtig es ist, darauf zu achten, dass sich die Belastung generell und einmal mehr im Advent und zu Weihnachten nicht zu sehr manifestiert, wird bei einem Blick in die Stressambulanz im Gesundheits- und Vorsorgezentrum des Sanatorium Hera klar. 2023 wurden hier 1.529 Patienten ganzheitlich betreut. Die Nachfrage nach Betreuung ist im Vergleich zum Vorjahr um 64 Prozent gestiegen. Laura Carlberg arbeitet hier als Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin. „Laut WHO kann Stress als sorgenvoller Zustand oder Zustand mentaler Angespanntheit aufgrund einer schwierigen Situation definiert werden“, sagt sie. Das sei nicht grundsätzlich schlecht, denn der Körper werde damit auf außergewöhnliche Anstrengungen vorbereitet.
Allerdings: „Langfristiger Stress kann das Immunsystem schwächen, die Verdauung beeinträchtigen und das Risiko für chronische Krankheiten erhöhen“, so Laura Carlberg. Außerdem fördere langanhaltender Stress das Risiko für Magen-Darm-Probleme, erhöhten Blutdruck, Schlafstörungen und Depressionen. „Chronischer Stress kann bereits nach einigen Wochen bis Monaten zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führen, darunter Herzerkrankungen, Depressionen und Burnout“, betont Carlberg. Frühe Warnzeichen wie Müdigkeit, Schlafstörungen, Reizbarkeit, häufige Kopfschmerzen, Magenbeschwerden oder auch ein Rückgang der Leistungsfähigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten sollten daher nicht ignoriert werden.
Weihnachts-Chaos: Nicht nur „Ausbrennen“ – sondern „Weiterbrennen“
Immer wieder beobachte Carlberg als Ärztin, dass viele Menschen erst zu spät auf diese Warnzeichen achten. „Die meisten Patienten und Patientinnen kommen erst, wenn sie Symptome von Burnout oder chronischem Stress nicht mehr selbst bewältigen können. Wenn körperliche Beschwerden auftreten, oder wenn es zu psychischen Problemen wie Depressionen oder Angststörungen kommt.“ Der Weg zurück ins psychische und damit auch körperliche Wohlbefinden könne dann Monate bis Jahre dauern. „Die Heilungschancen bei Burnout hängen von der Schwere der Symptome und der frühzeitigen Intervention ab“, betont Laura Carlberg. Was aber, wenn man gar keinen Zusammenbruch, kein Burnout hat und das Stresslevel trotzdem hoch ist? Dann spricht man mittlerweile vom Burnon. „Burnon beschreibt einen Zustand der permanenten Überforderung und Erschöpfung, bei dem Betroffene dennoch weiterhin funktionieren und arbeiten, ohne einen kompletten Zusammenbruch zu erleiden. Es ist eine Art ‚fortlaufender‘ Burnout, bei dem die Symptome unterschwellig vorhanden sind, aber nicht zu einem vollständigen Ausfall führen“, erklärt Laura Carlberg. Burnon kann mitunter deshalb gefährlicher sein, da es oft im Alltag nicht bemerkt wird, zudem mache die „schleichende Natur“ der Erkrankung es noch schwerer, diese zu behandeln.
Damit ein Fest für eine große Familie funktioniert, müssen sich auch alle zuständig fühlen.
Was ist wirklich notwendig?
Und was aber jetzt tun, vier Wochen vor Weihnachten, um nicht besinnlich ins Burnout oder Burnon zu gleiten und den Grundgedanken von Weihnachten und Advent nicht komplett zu verlieren? „Das Wichtigste und gleichzeitig das Herausforderndste ist bestimmt, kritisch zu hinterfragen, ob das alles, was da gerade passiert, wirklich notwendig ist. Gerade uns Frauen möchte ich in diesem Zusammenhang ermutigen: Stellen wir uns selbst wirklich und ohne Einschränkung ins Zentrum dieses Hinterfragens. Das hat nichts, aber wirklich rein gar nichts mit Egoismus zu tun“, betont Veronika Burtscher-Kiene. Versuchen Sie so aktiv wie möglich, Stress zu minimieren. Jeder, der schon ein großes Fest vorbereitet hat, weiß: Auch dann bleibt noch genug zu tun. Suchen Sie sich dabei aber vielleicht jene Beschäftigungen – und zelebrieren Sie sie – die Ihnen guttun und Ihnen echte Freude bereiten. Die Care-Arbeit und der Mental Load, der dabei trotzdem bleibt, lassen sich dann vielleicht ein bisschen leichter ertragen. Vielleicht sogar so leicht, dass Sie – ganz nach Charles Dickens – sagen können: „Ich werde Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen, es das ganze Jahr hindurch aufzuheben.“
Zur Person: DDr. Laura Carlberg
DDr. Laura Carlberg ist Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin in der Stressambulanz im Gesundheits- und Vorsorgezentrum des Sanatorium Hera und mit eigener Ordination.
▶ psychiatriecarlberg.com
Zur Person: Dr. Veronika Burtscher-Kiene
Dr. Veronika Burtscher-Kiene ist klinische Psychologin, Gesundheits- und Notfallpsychologin und Mama von zwei Kindern.
▶ efz.at