Bibel: Kein Gott der Liebe?
Gerhard LohfinkNeutestamentler Gerhard Lohfink erläutert aufregende Themen der Bibelwissenschaft und spricht über das Gottesbild.
Herr Professor Lohfink, Ihre Bücher erleben hohe Auflagen und werden in viele Sprachen übersetzt. Ihr Buch über Jesus von Nazaret erschien sogar in chinesischer Sprache – und zwar in Peking. Wie machen Sie das?
GERHARD LOHFINK: Ich mühe mich ab, auch schwierige theologische Fragen verständlich zu beantworten. Meine Eltern waren einfache Leute. Mein Vater war Lokführer, meine Mutter Schneiderin. Ich habe die beiden beim Schreiben noch immer vor Augen. Sie hätten den Kopf geschüttelt, wenn ich aus hoher Warte dahergeredet hätte. Und ich versuche, so gut ich kann, die Worte der Bibel in unser Heute zu übersetzen.
Da nehme ich Sie gleich beim Wort. In den Evangelien gibt es harte Gerichtsworte Jesu. Wie sollen wir mit ihnen umgehen?
Wir müssen darauf achten, in welcher Sprech-Intention Jesus jeweils redet. Sprache kann eben vieles. Sie kann informieren und konstatieren – sie kann aber auch drohen, warnen, anklagen, befehlen, bekennen, trösten und vieles andere. Beispiel Markus 10,25: „Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Gottesreich!“ Hier sollen Menschen, die in ihrem Reichtum verhärtet sind, aufgeschreckt werden. Der Eispanzer ihres Egoismus soll zerschlagen werden. Es handelt sich also um eine Sprache, die aufrütteln will, und nicht um eine Information, die sagen will: „Von den Reichen bekommen 0,0 Prozent Anteil am Reich Gottes.“
Nun ist es ja so: Die tröstenden, die liebevollen Worte Jesu stehen heute im Vordergrund. Seine Forderungen hingegen werden in Predigt und Katechese eher unterschlagen ...
Ja, leider ist das so. Und damit werden wir Jesus nicht gerecht. Damit wird er verharmlost. Mehr noch: Auf diese Weise wird er vom Alten Testament geradezu wegoperiert. Denn zum Gott Israels gehört beides: die radikale Aufdeckung menschlicher Schuld – aber auch seine barmherzige, ja mütterliche Liebe.
„Rache Gottes“ in unseren Bibelausgaben ist eine Fehlübersetzung.
Gerhard Lohfink
Im Alten Testament ist vom „Zorn“ Gottes die Rede, auch von der „Rache“ Gottes. Haben Sie das im Blick, wenn sie von der „Aufdeckung menschlicher Schuld“ sprechen?
Ja. Allerdings ist „Rache Gottes“ in unseren Bibelausgaben eine Fehlübersetzung. Gemeint ist an diesen Stellen nicht das, was wir heute unter „Rache“ verstehen. Also nicht ein Sich-Rächen aus persönlichem Hass – gegen das geltende Recht. Gemeint ist, dass Gott den Rechtszustand wiederherstellt. Gott will eine gerechte Gesellschaft, in der den Unterdrückten geholfen wird. Das vor allem ist mit seiner „Vergeltung“ oder seinem „Zorn“ gemeint. Wenn behauptet wird, der Gott des Alten Testaments sei ein Gott des Zorns, der Gott des Neuen Testament dagegen ein Gott der Liebe, so ist das ein törichtes Missverständnis.
Sie sind also offensichtlich dafür, dass die Christen das Alte Testament besser kennenlernen und mehr schätzen sollten?
Unbedingt. Das kleine Volk Israel hat inmitten von mächtigen Großreichen das Götterwesen dieser Völker immer wieder mit seinen eigenen Gotteserfahrungen verglichen. Es hat gesehen, wie in diesen Gesellschaften die Natur vergöttlicht wurde – desgleichen der Herrscher, der Staat und das eigene „Ich“. Israel hat aufgrund seiner eigenen Gotteserfahrung dagegengesetzt: Nicht die Welt ist göttlich, sondern Gott hat die Welt erschaffen. Nicht der Staat und die Machtgier sind göttlich, sondern Gott will eine gerechte Gesellschaft. Und nicht das eigene „Ich“ darf im Vordergrund stehen, sondern der „Nächste“, für den ich verantwortlich bin. Aber diese Einsichten waren für Israel ein langer Weg.
Wir sind von diesem biblischen Gott, der sein Volk erzieht, der eindeutige „Weisung“ gibt und es herausführt aus der Welt der selbstgemachten Götter, wohl noch immer weit entfernt. Haben wir ihn nicht zum „lieben Gott“ gemacht, der für alles Verständnis hat, eine Art „Wohlfühl-Gott“?
So ist es tatsächlich. In unserer Gesellschaft wird nicht nur von der Reklame-Industrie, sondern von Psychologen und nicht selten sogar von Theologen empfohlen: „Sei gut zu dir selbst!“, „Hab dich selbst lieb!“, „Verzeih dir selbst!“, „Nimm dich an, wie du bist!“ – Dieses kuschelige Menschenbild wird dann auf Gott übertragen. Gott wird zum netten und lieben Großpapa. Wenn dann aber die Welt plötzlich ganz anders ist, wenn sie uns entgegenkommt als eine Welt voll Dreck, Unterdrückung, Krieg und brutaler Gewalt, dann verstehen wir Gott nicht mehr, klagen ihn an oder wenden uns stillschweigend oder sogar empört von ihm ab – Folgen eines unzulänglichen und ganz und gar unbiblischen Gottesbildes.
Ist die Rede vom „lieben Gott“ völlig falsch?
Nein. Wenn wir zu Kindern vom „lieben Gott“ reden oder ihn in unseren persönlichen Gebeten als den „lieben Gott“ oder unseren „lieben Vater“ anreden, so ist das durchaus richtig und darf nicht mit der Verharmlosung Gottes verwechselt werden, von der gerade die Rede war. Denn das Bild von dem guten und sich erbarmenden, eben dem lieben und liebenden Gott, ist wesentlich für das Alte Testament und natürlich auch für Jesus.
Könnten Sie einen entsprechenden Text von Jesus nennen?
Zum Beispiel das Gleichnis vom verlorenen Sohn in Lukas 15, mein Lieblingsgleichnis. Es zeigt die unerschütterbare Liebe dieses Vaters. Er eilt dem jüngeren Sohn, der in der Fremde sein Erbe verschleudert und seinen Glauben verloren hat, entgegen, unterbricht geradezu dessen Schuldbekenntnis und setzt ihn in seine verlorenen Sohnesrechte wieder ein. Ähnlich bei dem älteren Sohn, der die Heimkehr seines Bruders nicht mitfeiern will: Auch ihm geht dieser Vater entgegen und bittet ihn, doch bei dem Fest dabei zu sein. Der ältere Sohn aber ist noch verlorener als der jüngere es war. Denn der jüngere ist umgekehrt – der ältere bleibt hart und kennt keine Vergebung.
„Wer Jesus hört und begegnet, der hört und begegnet Gott selbst.“
Gerhard Lohfink
Sie haben ein ganzes Buch über die 40 Gleichnisse Jesu geschrieben. Was ist das wichtigste Ergebnis dieses Buches?
Jesus redet in all diesen Gleichnissen von Gott und zugleich von sich selbst.
Wie macht er das?
Blicken wir noch einmal auf Lukas 15. Der Vater, der seinem Sohn entgegenläuft, ist natürlich Gott. Aber zugleich verteidigt Jesus in dieser grandiosen Erzählung sein eigenes Verhalten zu den Sündern. Er verteidigt es angesichts der Härte seiner Gegner. Die wollen voll Selbstgerechtigkeit, dass Sündern zuerst einmal schwere Bußleistungen auferlegt werden. Der ältere Sohn verkörpert diese Gegner. Jesus schildert also in diesem und in anderen Gleichnissen nicht nur das Verhalten Gottes, sondern untrennbar davon sein eigenes Verhalten. Damit aber tritt er an die Stelle Gottes. Wer ihn hört, hört Gott. Wer ihm begegnet, begegnet Gott selbst. Dieses „Sich-in-Eins-Setzen“ Jesu mit Gott war dann die Basis für das Bekenntnis des 4. Evangeliums: „Und das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14) und noch später für das kirchliche Dogma: „Jesus – wahrer Gott und wahrer Mensch“.
Das heißt: Das Dogma „Wahrer Gott und wahrer Mensch“ beruht nicht auf einer späteren „Vergöttlichung“ Jesu durch die Kirche, sondern hat eine reale Basis in den Worten und vor allem im Verhalten Jesu selbst?
Genau. Der neue aggressive Atheismus, der die alte Unterstellung der Aufklärer von der „Vergöttlichung Jesu durch die Kirche“ wieder aufgreift, verachtet saubere historische Arbeit. Diese Leute haben keine Ahnung, wie man Texte sachgerecht auslegt. Oder sie wollen es nicht.
Ist an diesem scharfen Gegenwind die christliche Theologie nicht selbst schuld? Es gibt doch in ihr so viele verschiedene Stimmen, oft verwirrende Gegenpositionen, Zweifel an grundlegenden biblischen Aussagen, Missachtung der kirchlichen Tradition?
Ja und Nein. Die Theologie ist wie das Metier der Physiker, der Historiker, der Philosophen und vieler anderer, die sich um die „Vermessung unserer Welt“ bemühen, eine echte Wissenschaft. Und zu jeder Wissenschaft gehört das Aufkommen neuer Positionen, gehört deren Verifizierung oder Falsifizierung, gehört der wissenschaftliche Diskurs. Das alles darf uns nicht erschrecken. Es ist eine Konsequenz dessen, dass „das Wort Fleisch geworden ist“. Gott ist ganz in unsere Welt gekommen, er ist einer von uns geworden. Und zu unserer Welt gehört unabdingbar die Debatte um das richtige Verständnis menschlicher Existenz, das unaufhörliche Gespräch, das Ringen um die Vernunft. An all dem ist nichts Böses.
Sie haben auf die Fleischwerdung Gottes hingewiesen. Bald feiern wir Weihnachten. Wie können wir uns auf dieses Fest vorbereiten?
Indem wir den Advent nicht als „vorweihnachtliche“ Zeit begehen, sondern als Zeit, in der wir auf die Wiederkunft Christi am Ende unserer irdischen Zeit blicken. Dieses „Ende“ beginnt schon in unserem Tod. Dann werden wir vor Christus, dem Weltenrichter, stehen. Die Begegnung mit ihm wird aber bereits jetzt vorweggenommen: in jedem Sakrament, in jedem Hinhören auf die Heilige Schrift, in jeder Hilfe, die wir anderen Menschen schenken. Mit all dem beginnt unsere endgültige Begegnung mit Christus schon heute. Nur so feiern wir den wahren, den christlichen Advent, in dem es eben nicht um Weihnachtsmärkte und Schokolade-Nikoläuse geht.