Zeit für das Fiasko lassen
Neustart! Wie neu beginnen geht - Teil 4Sie will sich nicht länger vertrösten lassen. Teil vier dieser Serie – mathematisch die Mitte. Weil sie im Theatertakt denkt, ist die Mitte der Höhepunkt. Der geht nicht ohne sie, findet sie. Gut, ich hatte ja ohnehin vor, sie zu Wort kommen zu lassen. Also von mir aus gern heute.
Sie
„Sie“, das ist: Heidi Appenzeller. Mein anderes Ich. Jene Figur, als die ich zehn Jahre lang (ich war Clowndoctor) kranke Kinder besuchte. Heidi Appenzeller ist altmodisch (Pullunder und Löckchenfrisur), Jodlerin, Brillenträgerin (ohne Gläser, sie weint oft vor Rührung, und so kommt man mit dem Taschentuch besser hinein). Außerdem ist sie der Dichtung zugeneigt. Jeder – außer der ganz modernen. Denn: „Die, im Großen und im Kleinen, darf sich einfach gar nicht, ähm, in Reime fügen. Sie sollte ungereimt sich wenden, vom Anfang bis zu allen, hm, Schlüssen. Und das ist schwer. Sogar, puh, außerordentlich.“
Jede Tür ein Neubeginn
Heidi Appenzeller kennt sich mit Anfängen aus. Schließlich hat sie bei jedem Einsatz mindestens vierzig gemacht. Jede Tür, vor der sie stand: ein Neubeginn. Ohne Idee, was da wartet, hinter der Tür. (Höchstens: ein Blinddarm, fünf Jahre. Oder: Bulimie, vierzehn. Nicht gerade viel. Oder: schon das zu viel, Erwartungen waren gefährlich. Der Blinddarm war manchmal topfit. Und die Bulimie so zart und klein, dass sie aussah wie neun und – Pubertät hin oder her – doch gerne lachte.)
Der Anfang hat schon begonnen
Was habe ich von Heidi über das Anfangen gelernt? Zum Beispiel das hier: Manchmal ist man schon längst in einem Anfang drinnen – und weiß es noch nicht. Es ist eine der Grund-Übungen der Clownausbildung: Man kommt, kehrt die Bühne, wähnt sich allein, dreht sich irgendwann um – und stellt fest, dass da Menschen im Publikum sitzen. „Mit Erschrecken“ hätte ich jetzt fast geschrieben. Aber nein: Die Kunst des Clowns besteht darin, diesen Moment des „Hui“ nicht zu schnell mit Gefühlen zu füllen. „Fiasko“ heißt das im Theater-Jargon. Der geübteste Clown ist der, der es am längsten schafft, ratlos zu sein. Baff. Anfänger versuchen, die peinliche Situation rasch zu beenden. Sie überspielen, tun so, als hätten sie „das alles“ eh schon gewusst – oder sie flüchten. Für die, die zuschauen, ist das immer schade. Denn ein Clown im Fiasko berührt. Einer, der es vermeidet, der schummelt, ist einfach nur fad.
Leere im Hirn
Fiasko bedeutet: der Unvorhersehbarkeit die Ehre erweisen. Und nicht nur ihr, sondern auch der Verletzbarkeit, die mit ihr einhergeht und zu uns Menschen gehört. Wir glauben zu wissen – und wissen das Falsche. Kennen Sie das? Dass es die Spatzen schon vom Himmel pfeifen und Sie sich noch immer wehren? Dass Sie noch glauben,
sich drücken zu können? Dass Sie mehr
Angst haben vor dem Gesichtsverlust oder dem Schmerz des Eingestehens als vor dem Neubeginn selbst? Heidi Appenzeller gibt uns eine Erlaubnis: Es ist okay, in solchen Fällen erst einmal ratlos zu sein. Erst einmal gar nichts zu fühlen. Nur dazustehen, mit Leere im Hirn.
Durcheinander
Nicht nur der Clown kennt dieses Fiasko. Auch Neurowissenschaftler haben es schon entdeckt, und zwar in unseren Köpfen. In Phasen, die uns überfordern, ändert sich da die Durchblutung. Die Frontallappen (Teile unseres Hirns, die fürs Gescheit-Sein zuständig sind) bekommen kein Blut mehr. Auch das Sprachzentrum wird unterversorgt. Das Blut geht stattdessen zum Beispiel in Bereiche, mit denen wir träumen.
Marathon oder nicht
Lieber Herr Borges, ich frage mich, wie viel Zeit noch vor Ihnen lag, als Sie Ihren Text geschrieben haben, der jahrelang jede Woche an meiner Seele zupfte. Ich glaube, die Etappe war kurz. Das Leben meiner Kinder, im Rückblick gesehen: eine winzige Spanne Zeit. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir diese Zeit anders eingeteilt, nicht als Marathon, bei dem ich Kraft sparen muss – und Geld für die Zukunft verdienen. „Ich gebe dir nur einen Rat: Unterschreib im kommenden Jahr keinen Vertrag“, sagte mir eine Freundin nach dem Tod meiner Familie. Sie hatte Erfahrung mit so was, ihr Freund hatte sich vor Jahren das Leben genommen.
Zwischen Ende und Anfang
Ich weiß nicht, wie ich ihn nennen soll, diesen Zustand des „Oh“ zwischen Ende und Anfang. Ist man unzurechnungsfähig, handlungsunfähig, entscheidungsverwirrt? Wohl ein bisschen von allem. Was man aber noch sein könnte, wenn man sich das Fiasko erlaubt: in höchstem Maß offen. Unvoreingenommen. Veränderungsnah. Bereit für Ruf und innere Stimme.
Streunen
Ich weiß noch, was ich im Jahr 2008, im großen Fiasko meines Lebens, am liebsten gemacht habe. Ich bin stundenlang durch die Wälder spaziert. Und habe mich sogar ab und zu in Nachtzüge gesetzt, um irgendwohin zu fahren. Das Hirn stand still, aber die Beine wollten sich bewegen. Heute sage ich: Das wichtigste Seh- und Gedankenorgan, das wir haben, sind unsere Füße. Sie wissen, was zu tun ist, wenn man es selbst nicht mehr weiß. Herumgehen, streunen, den Standpunkt verlassen. Ein paar Schritte weiter wartet nämlich oft ein erster, ganz neuer Gedanke. Oder ein Mensch, an den man sich wenden kann. Oder ein Lebensgefühl, an das man gar nicht mehr glaubte.
Zaghaft
Auch der Anfänger-Clown lernt bald, dass das Hirn nicht der beste Ratgeber ist bei der Frage, wie man rauskommt aus dem Fiasko. Wenn man vertraut, beginnt meist der Körper mit einer kleinen Bewegung. Oder es passiert etwas im Außen, auf das man reagieren kann, mit einem Blick, einer Geste, einem zaghaften Lächeln. Von da an geht es weiter, Moment um Moment. Und wie enden wir jetzt, Frau Appenzeller? Sie weiß es: mit Dichtung. „Ein Glück, dass es hier um Anfänge geht. Und nicht darum, was am Ende … ist. Leben ist schön, auf Wieder… Öhm.
Bis bald, meine ich.“