Wir Leute von der Straße

Sommerbrief
Ausgabe Nr. 30
  • Meinung
Autor:
Madeleine Delbrêl (1904–1964), französische Schriftstellerin, katholische Mystikerin, Pionierin des Glaubens in einer säkularisierten Welt. ©Gisbert Greshake/Josef Weismayer

In unseren Sommerbriefen lassen wir über die Sommermonate wieder bekannte Persönlichkeiten zu Wort kommen. Diesmal ist es die französische Schriftstellerin Madeleine Delbrêl.

Aus dem „Manifest“ der kleinen Gemeinschaft von Madeleine Del-brêl: „Wir Leute von der Straße“.

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Es gibt die Leute, die Gott nimmt und beiseite stellt. Andere  gibt es, die lässt er in der Masse, die zieht er nicht „aus der Welt zurück“. 

Es sind die Leute, die eine gewöhnliche Arbeit verrichten, eine gewöhnliche Wohnung haben und gewöhnliche Ledige sind. Leute, die gewöhnliche Krankheiten, gewöhnliche Traueranlässe haben. Leute, die ein gewöhnliches Haus bewohnen und gewöhnliche Kleider tragen. Es sind Leute des gewöhnlichen Lebens. 

Leute, die man in einer beliebigen Straße antrifft. Sie lieben ihre Tür, die sich zur Straße hin öffnet, wie ihre der Welt unsichtbaren Brüder die Tür lieben, die sich endgültig hinter ihnen geschlossen hat. Wir anderen, wir Leute von der Straße, glauben aus aller Kraft, dass diese Straße, dass diese Welt, auf die uns Gott gesetzt hat, für uns der Ort unserer Heiligkeit ist. Wir glauben, dass uns hier nichts Nötiges fehlt, denn wenn  das Nötige fehlte, hätte Gott es uns schon gegeben. 

Das Schweigen fehlt uns nicht, denn wir haben es. Sollte es uns eines Tages fehlen, so deshalb, weil wir es nicht zu halten wussten. Alle Geräusche, die uns umgeben, machen viel weniger Lärm als wir selber. Der eigentliche Lärm ist der Widerhall der Dinge in uns. Wer spricht, unterbricht damit nicht schon das Schweigen. Das Schweigen ist der Platz des Wortes Gottes, und wenn wir beten, wiederholen wir bloß dieses Wort, ohne unser Schweigen zu unterbrechen.

Die Klöster erscheinen als die Orte des Lobpreises und jenes Schweigens, das für den Lobpreis unentbehrlich ist. Wir auf der Straße, zwischen die Leute gepresst, bereiten unsere Seelen zu ebensoviel Höhlen des Schweigens, wo­rin das Wort Gottes ruhen und widerhallen kann. 

In manchen Volksscharen, wo Hass, Begierlichkeit, Alkohol die Sünde verrät, kennen wir das Schweigen der Wüste; unsere Seele sammelt sich mühelos, damit Gott seinen Namen darin ertönen lässt: „Vox clamantis in deserto“ („Die Stimme des Rufers in der Wüste“, Anm. d. Red.) 

Autor:
  • Stefan Kronthaler
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