Die Wiederentdeckung der Klage

Das Schweigen Gottes aushalten
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Jan-Heiner Tück
Jan-Heiner Tück ©F.Schallhart / Herder

Ein Grund zur Klage, auch vieler Gottsuchender, ist oft der Umstand, dass Gott scheinbar nicht eingreift, um das Leiden zu beenden. Wenn er doch allmächtig ist und es könnte. Oder kann er es nicht, wie manche meinen? In Zeiten der Corona-Viren antwortet der Wiener Dogmatik-Professor Jan-Heiner Tück auf einige der schwierigsten Fragen der Theologie.

Noch vor Ausbruch der großen Corona-Krise auch in Österreich hat der SONNTAG mit dem Wiener Dogmatik-Professor Jan-Heiner Tück Anfang März das Interview über die Klage als leidsensible Form des Gebets geführt. In diesen Tagen und Wochen bekommen diese Fragen nach dem Warum des Leides, dem Schweigen Gottes und dem möglichen Klagen des Menschen eine neue Bedeutung. Ein großer Grund zur Klage in der jüngeren Geschichte war und ist die Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten in Europa. Die Frage nach dem Warum des Nicht-Eingreifens Gottes bleibt hier offen. Angesichts der gegenwärtigen Corona-Krise verfallen manche in einen neuen Nihilismus („Beten hilft nichts“), andere, und das sind nicht wenige, schütten vor Gott ihr Herz aus, sie klagen. Manchmal klagen sie Gott gar an. So wie sie es in der Heiligen Schrift, in den Psalmen oder bei Hiob, finden.

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Herr Universitäts-Professor, wann haben Sie – im biblischen Sinn – das letzte Mal so richtig geklagt?

Jan-Heiner Tück: Immer wieder bete ich die Klagepsalmen. Und sie helfen mir, die schwierigen und dunklen Seiten der Wirklichkeit, die ich erlebe, so ins Wort zu bringen, dass sie an das große Gegenüber adressiert werden. Gleichzeitig gibt es Gedichte, die für mich eine Nähe zur Klage aufweisen, auf die ich gerne zurückkomme.

Wir haben Tendenzen, in Kirche und Liturgie die Dimension der Klage herunterzufahren.

Wie kommt es, dass die Klage als leidsensible Form des Gebetes im „Lexikon für Theologie und Kirche“ so unterbelichtet ist, nämlich gerade einmal eine halbe Seite umfasst?

Jan-Heiner Tück: Wir haben Tendenzen, in der Tradition von Kirche und Liturgie die Dimension der Klage herunterzufahren. Wer klagt oder gar Gott anklagt, steht im Verdacht, sich nicht mehr in den Bahnen der geläufigen Frömmigkeit zu bewegen. Ich würde daher mit Erich Zenger und Johann Baptist Metz sagen: Nur dann, wenn die ganze Wirklichkeit des menschlichen Lebens ins Gebet eingebracht wird – und dazu gehören eben die dunklen Seiten, das Leid –, nur dann ist das Gebet auch lebensgesättigt. Ein halbiertes, nur auf Bitte, Lob und Dank zentriertes Gebet reicht nicht aus.

Aber wir haben doch in der Kirche die Form der Klage, etwa in den kommenden Kar-Tagen…

Jan-Heiner Tück: Das ist natürlich richtig. Karfreitag, Karsamstag sind liturgische Orte, wo das Verstummen des Wortes Gottes selbst in Erinnerung gerufen wird. Gerade am Karsamstag ist das Mensch gewordene Wort Gottes selbst tödlich verstummt! Und wir müssen dieses Verstummen, dieses Gottes-Schweigen auch aushalten.

Wenn die biblische Klage-Gebete sogenannte Konflikt-Gespräche mit Gott sind, müssten wir dann nicht öfter solche Gespräche führen?

Jan-Heiner Tück: Das müssten wir in der Tat. Wir glauben, dass Gott uns im Letzten Gericht befragen wird. Dass umgekehrt auch wir ihn befragen können und sollen, das ist uns eher fremd. In der jüdischen Tradition gibt es das Rechten und Hadern mit Gott. Denken Sie an Abraham und Mose, die haben mit Gott gerechtet. An diesen Streitgesprächen können wir lernen, unseren Schöpfer zu befragen und ihm unsere komplexe Wirklichkeit vorzuhalten. Auf dass er sie dann ins Lot bringe!

Nun haben Päpste wie Johannes Paul II. oder Franziskus in Jerusalem oder in Auschwitz auch geklagt. Benedikt XVI. hat 2006 in Auschwitz das Schweigen und Beten vorgezogen. Ist dies angebrachter? Oder müssen wir nicht, um die Frage zu wiederholen, noch öfter klagen?

Jan-Heiner Tück: Ja, das war bemerkenswert. Benedikt XVI., der nicht dafür bekannt ist, dass er die Klage und Anklage sehr stark macht, hat bei seinem Auschwitz-Besuch Psalm 44, den wohl intensivsten Klage-Psalm rezitiert, um seine Erschütterung zum Ausdruck zu bringen. Psalm 44 trägt das unfassbare Leid des erwählten Gottesvolkes vor Gott selbst: Warum? Wie lange noch? Interessant ist aber auch, dass Papst Franziskus die Frage der Theodizee umgelenkt hat auf die Frage der Anthropodizee: Wo warst du, Adam? Wo warst du Mensch, als dieses Unrecht geschehen ist? Er hat also die Frage auf die Verantwortung der Täter gelenkt, damit sind auch die Zuschauer und Mitwisser gemeint, die davon gehört und gewusst haben, aber nichts gesagt und geschwiegen haben. Sagt die Shoa, der Völkermord an den Juden im Zweiten Weltkrieg, sagt Auschwitz nicht auch etwas über die Ideologie-Anfälligkeit, die Feigheit des Menschen aus? Und müssen wir hier nicht auch unsere Hausaufgaben machen? Beide Aspekte sind wichtig: Die Klage oder Anklage Gottes angesichts des Unfasslichen, aber auch der Impuls, selbstkritisch nach der eigenen Verantwortung zu fragen.

Stichwort Theodizee: Oft führt der Weg von der Klage zur Anklage. Ein Zitat aus Ihrem Buch „Gottes Augapfel“ lautet: Wie kann, wenn Israel das erwählte Volk Gottes ist, die Shoa mit dem Glauben an die Geschichte Gottes zusammengedacht werden?

Jan-Heiner Tück: Das gehört zu den schwierigsten Problemen der Theologie der Gegenwart. Ist die Shoa nicht sogar ein Widerruf der Erwählung Israels gewesen? Eine Art Anti-Sinai? Solche Fragen haben Holocaust-Theologen im Judentum aufgeworfen. Ich selbst habe keine direkte Antwort auf diese Frage. Es gibt eine geheimnisvolle Nähe zwischen dem Leiden der Opfer und der Passion des Gekreuzigten, des Juden Jesus von Nazareth. Diese Nähe hat Paul Celan in seinem Gedicht „Tenebrae“ ins Wort gebracht. Gott ist nicht apathisch, er hat sich auf Golgotha an die Seite der Leidenden gestellt. In der Auferweckung des Gekreuzigten sehen Christen den Grund, dass Gott selbst am Ende der Tage auf das dunkle Problem des Leidens eine Antwort geben wird, die nicht unter dem Niveau der klagenden Rückfragen bleiben wird – eine Antwort, die sowohl die Gerechtigkeit für die Opfer wiederherstellen als auch die Wahrheit über die Täter aufrichten wird, die ja meist rückblickend ihre Taten verschleiert und abgestritten haben. Aber Gericht heißt Krisis: Die Täter werden mit ihren Verfehlungen konfrontiert. Ob sie noch Heil finden können und sollen, ist eine Frage, die ohnehin umstritten ist.

Das heißt, Sie würden so wie der Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini am Ende der Tage Gott diese Frage stellen?

Jan-Heiner Tück: Ja, ich würde mir das Gerichtsgeschehen nicht einlinig als Befragung meiner Biografie durch Gott vorstellen wollen, sondern umgekehrt auch so, dass ich offen gebliebene Rückfragen an Gott stellen darf, in der Hoffnung, dass er sie wird beantworten können. Und hier ist für mich die Passion, das Kreuz, ein Verstehensschlüssel. Die Tatsache, dass Gott sich selbst an die Seite der leidenden Opfer gestellt hat, um sie in ihrer Entwürdigung zu würdigen, dass er zugleich die Verlorenen aufgesucht hat, um sie zu retten, ist für mich die Grundlage einer Hoffnung, dass auch die abgründigen Fragen eine Antwort finden werden.

Ein Grund zur Klage, auch vieler Gottsuchender, ist oft der Umstand, dass Gott scheinbar nicht eingreift, um das Leiden zu beenden. Wenn er doch allmächtig ist und es könnte oder kann er es nicht?

Jan-Heiner Tück: Gott respektiert die Freiheit des Menschen so sehr, dass er nicht einschreitet. Die Geschichte ist kein Marionettentheater, das Gott von Ewigkeit her geplant hat. Die Geschichte ist der dramatische Schauplatz, wo – theologisch gesprochen – Menschen aufgerufen sind, Partner und Freunde Gottes zu werden, weil Gott selbst diese Freundschaft den Menschen angeboten hat. Zur dramatischen Seite der Geschichte gehört, dass Menschen dieses Freundschafts-Angebot Gottes ausschlagen und verweigern, was oft in dramatischen zwischenmenschlichen Praktiken seine Auswirkung findet. Gott greift nicht ein. Nicht, weil er nicht kann. Er könnte es wohl, aber er achtet die Freiheit des Menschen bis zuletzt. Das ist abgründig und setzt auch die Theodizee-Frage frei. Gott trägt die Letzt-Verantwortung für eine Freiheits-Geschichte, in der ein solches Leid stattfinden kann, und diese Rückfrage ist echatologisch an ihn zu adressieren, weil nur er als Schöpfer der Welt auch der Vollender der Leid und Schmerz durchzogenen Welt wird sein können.

Nun meinen manche, nicht mehr von Gott reden zu können. Andererseits muss man doch von Gott reden. Wie lässt sich diese Spannung auflösen?

Dazu möchte ich eine jüdische Anekdote zitieren. Fragt ein Rabbi einen anderen Rabbi: Wie kannst du nach Auschwitz noch an Gott glauben? Antwortet der andere Rabbi: Wie kannst du nach Auschwitz nicht an Gott glauben?

Autor:
  • Stefan Kronthaler
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