Wie legitim ist Folter?
MeinungWas ist der Mensch wert? Der Hohepriester Kajaphas sagte über Jesus: Es ist besser für euch, wenn ein Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht. Das ist das Denken der Mächtigen. Was meine Macht gefährdet, gefährdet alle und muss vernichtet werden. Egal ob das ein Attentäter ist oder ein Kind, das in Nigeria bei Überfällen von islamischen Fundamentalisten ermordet wird. Die Antwort der Bibel dazu ist eindeutig: Aus christlicher Sicht ist jeder Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen, der Einsatz der Propheten gilt den Ausgebeuteten und Jesus wendet sich den Sündern zu. Das ist ein klares Bekenntnis zur gleichen Würde jedes Menschen. Als Christen halten uns diese Worte seit 2.000 Jahren einen Spiegel vor.
Und was ist mit der Folter? Schon 1602 schrieb der reformierte Pfarrer Praetorius: „Heute gefoltert, morgen tot!“ Das haben wir etwa im Fall Nawalny gesehen. 1948 hat die UNO in der Erklärung der Menschenrechte die Folter weltweit geächtet. Im gleichen Dokument ist auch die Religionsfreiheit festgeschrieben.
Beides wird in unserer in Terror und Radikalisierungen dahintaumelnden Welt weitgehend missachtet und aus meist nicht-christlichen Kulturkreisen sogar grundlegend in Frage gestellt. Putins „Verdienst“ ist es, die Verachtung der Menschenwürde salonfähig gemacht zu haben. Wurde Folter in der jüngeren Vergangenheit meist schamhaft verborgen praktiziert, so ist sie heute erneut offen zum Mittel der Politik geworden. Folgerichtig werden die Folteropfer stolz im Moskauer Gericht präsentiert. Seit dem Überfall auf die Ukraine ist das Faustrecht weltweit wieder in Mode gekommen.
Wer steht dagegen auf? Man sollte meinen, die Christen: So ist der Einsatz für die Menschenwürde doch ein Teil ihrer religiösen Gene. Lautstarker, auch kirchlicher Protest gegen Folter ist jedoch viel zu verhalten. Aber jeder kann diesen Einsatz zeigen, denn er beginnt im Kleinen, im Alltag. Dort, wo ich wegschaue, beginnt die Erosion der Würde des anderen. Folter ist eine schwärende Wunde in unserer Welt. Aber sie ist zugleich ein Symptom für eine viel tiefer liegende Krankheit unserer Gesellschaften: der schleichenden Entsolidarisierung mit dem Nächsten.
Der Kommentar drückt die persönliche Meinung der Autorin aus!