Wie leben Kinder in der Ukraine?
2 Jahre KriegIn der Ukraine haben Millionen Kinder ihr Zuhause verloren, sie erleben fast täglich Fliegeralarme, schlafen und lernen in Luftschutzkellern und bangen um ihre Familienangehörigen. Caritas-Präsidentin Nora Tödtling-Musenbichler und Caritas-Auslandshilfechef Andreas Knapp haben Hilfsprojekte für diese Kinder, aber auch für alte Menschen in der Ukraine besucht. Georg Pulling hat sie für den SONNTAG begleitet.
Jedes Kind braucht eine Familie und hat das Recht auf ein Aufwachsen in Sicherheit und Geborgenheit.“ Das betont Vera Koshil, Leiterin des Kinderzentrums „Fonds Aspern“ in Kiew. Doch sie fügt sogleich hinzu: „Wie können wir unseren Kindern Sicherheit geben, wenn wir sie fast jede Nacht aufwecken und in den Luftschutzkeller bringen müssen?“ Die Kinder haben großen Stress, sind ängstlich und weinen. Die russischen Angriffe mit Raketen und Drohnen haben zuletzt wieder zugenommen.
Im Kinder- und Sozialzentrum „Fonds Aspern“, das von der Caritas unterstützt wird, gibt es u. a. ein Heim für 24 Kinder und Jugendliche im Alter von 2 bis 23 Jahren. Für hunderte weitere Kinder gibt es verschiedene Aktivitäten und Hilfsprogramme. Im Haus leben aber auch einige alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern und ältere alleinstehende Menschen, die im Krieg ihr Zuhause verloren haben. Wie erklärt man den Kindern diese Situation? „Wir sagen allen Kindern, dass Krieg ist, wir sprechen offen darüber. Wir reden aber auch über unsere Hoffnung, dass der Krieg bald zu Ende ist und plötzlich geht wieder der Alarm los und wir müssen in den Keller“, beschreibt Vera den Alltag.
Die Kinder haben besonders schwer unter dem Krieg zu leiden. Die Caritas hilft deshalb unter anderem mit sogenannten „Child Friendly Spaces“. Das sind Einrichtungen, in denen die Kinder spielen und sich kreativ betätigen können. Es gibt auch professionelle psychologische Unterstützung, damit die Kinder ihre Erlebnisse und Ängste aufarbeiten können. Und jede dieser Einrichtungen hat auch einen Luftschutzkeller. Viele Kinder haben auch schulischen Nachholbedarf“, weiß Caritas-Auslandshilfechef Andreas Knapp. Eine solche Einrichtung ist die Schule Nr. 22 in der westukrainischen Stadt Khmelnitsky, die Andreas Knapp und Nora Tödtling-Musenbichler aufsuchen. Mehr als 1.250 Kinder besuchen die Schule. Aus dem Schullautsprecher dröhnen nicht nur Informationen für die Schüler, sondern auch patriotische Lieder.
Die beiden Psychologinnen Nataliya und Olyesa kümmern sich um die Flüchtlingskinder. Sie spielen, zeichnen, tanzen und singen mit den Kindern, im Sesselkreis werden Themen besprochen, die die Kinder beschäftigen. Nicht wenige haben bereits ihre Väter oder Onkel im Krieg verloren. „Die Kinder träumen davon, in ihr Zuhause zurückzukehren“, sagt Olyesa. „Aber wir müssen stark sein und unsere Kinder stärken. Wir wollen auch lachen und das Leben genießen“, sagt sie, während ihr eine Träne über die Wange läuft. Larisa Fedorowa, die Direktorin der Schule, kann auf 33 Jahre Erfahrung als Lehrerin zurückblicken. Vor dem Krieg hätten alle das Leben etwas leichter genommen. Das habe sich mit dem Krieg fundamental geändert. Heute sei das Lebensgefühl ganz anders. „Wir müssen jeden Tag unser Bestes geben in der Schule, denn wir wissen nicht, ob es überhaupt noch ein Morgen geben wird.“
„Niemand weiß, was passiert“
Es ist unter anderem auch die Ungewissheit, die die Menschen auszehrt und an den Rand ihrer Belastbarkeit bringt. „Niemand weiß, was in den nächsten Minuten passiert. Und es kann immer alles passieren“, sagt Vera Koshil im Kinderzentrum „Fonds Aspern“ in Kiew. Nicht nur die Kinder brauchen Unterstützung. Auch Vera selbst und ihre Mitarbeitenden sind oft mit ihren Kräften am Ende. Zu Beginn des Krieges, als Kiew unmittelbar von russischen Truppen bedroht war, veranlasste Vera auf eigene Faust die Evakuierung der Kinder in den Westen der Ukraine. Eine nervenaufreibende Prozedur. Wenige Minuten nachdem der Zug mit den Kindern den Bahnhof verlassen hatte, schlug eine Rakete auf dem Bahnhofsgelände ein.
Dramatische Zahlen
Die Zahlen zwei Jahre nach dem Beginn des Krieges sind verheerend: 17,6 Millionen Menschen in der Ukraine sind laut UNO auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das sind knapp 50 Prozent der Bevölkerung. Die Zahl der Binnenvertriebenen beträgt rund 5 Millionen Menschen. 6 Millionen Menschen wurden als Flüchtlinge im Ausland registriert. Über 5 Millionen Kinder sind in der gesamten Ukraine vom Krieg betroffen, von denen laut Caritas nur etwa 30 Prozent eine Schule besuchen. Fast 3.800 ukrainische Bildungseinrichtungen wurden allein von Februar 2022 bis Oktober 2023 zerstört.
Trotz dieses dramatischen Befunds gibt es laut der ukrainischen Caritas-Präsidentin Tetiana Stawnychy nur eine Option für die Ukraine: „Wir bauen weiter an einer solidarischen Gesellschaft, in der man sich gerade auch in schwierigen Zeiten gegenseitig hilft.“ Die Hilfe der Caritas geschieht in den östlichen, kriegsnahen Gebieten mit Lebensmitteln, Medikamenten, mit der Errichtung von Schutzunterkünften oder der Bereitstellung von Heizmaterial; in den anderen Gebieten auch mit nachhaltigeren Projekten wie den Kinderzentren. Aber nicht nur für die Kinder, auch für die vielen alten, einsamen und kranken Menschen ist die Situation besonders schlimm. Ohne die Hilfe der Partner aus dem Westen wäre dies alles freilich nicht möglich. Stawnychy dankt Caritas-Präsidentin Tödtling-Musenbichler und fügt in Richtung der Österreicherinnen und Österreicher hinzu: „Eure Solidarität und Hilfe macht uns stark.“
„Nicht an das Töten gewöhnen“
„Wir versagen als Christen, wenn wir uns an das Leiden und Töten von Menschen gewöhnen oder müde werden. Es ist unsere Verantwortung als Christen, alles zu tun, was wir können, um das Leben der Menschen zu retten und das Leid zu lindern“, sagt der Generalvikar für die Gläubigen der katholischen Ostkirchen in Österreich, Erzpriester Yuriy Kolasa, zum SONNTAG. „Es ist für die Menschen gerade in den von Russland besetzten Gebieten sehr wichtig zu wissen, dass sie nicht vergessen sind“, betont Kolasa: „Das gibt diesen Menschen Kraft und Hoffnung, um überleben zu können.“ Und: „In vielen Gebieten der Ukraine, in denen die Häuser und die Infrastruktur völlig zerstört sind, sind noch immer Millionen von Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, also auf Lebensmittel, Medikamente, Kleidung.“
Daher werden weiterhin Menschen in Österreich gebeten, für die humanitäre Unterstützung der notleidenden Menschen in der Ukraine zu spenden. Seit Ausbruch des Krieges werden Spenden gesammelt – in St. Barbara (Wien 1), in der Pfarre Neuottakring (Wien 16) und im Ordinariat für die Gläubigen der katholischen Ostkirchen. Alle drei Einrichtungen konnten an Geldspenden bisher rund 1,27 Mio. Euro sammeln. Der Großteil davon wurde für medizinische Hilfe in Form von Medikamenten oder den Ankauf von gebrauchten Krankenwagen direkt in der Ukraine eingesetzt. Bisher konnten u. a. 22 Krankenwagen gekauft und in die Ukraine gebracht werden, weitere sollen folgen. Vom ersten Tag an waren die ukrainischen Gemeinden in Österreich oftmals erste Anlaufstellen für die Hilfesuchenden und begleiten auch aktuell noch tausende von schutzsuchenden Ukrainerinnen und Ukrainern.
▶ Spendenkonto Ukraine Hilfe, Ordinariat für die Gläubigen der kath. Ostkirchen, IBAN: AT78 1919 0001 3602 6950; Zahlungsreferenz: 3722401205 Ukraine Hilfe
Kardinal Christoph Schönborn ist im Krisenstab, der über die Verwendung der Spendengelder entscheidet.
▶ Caritas-Spendenkonto,
IBAN AT23 2011 1000 0123 4560,
Kennwort: Kinder in Not