Was können wir von der Klostermedizin lernen?
Alte Schätze neu entdeckenDer heilige Benedikt von Nursia (um 480 bis 547) gilt als Vater der Klostermedizin. In einer Zeit des Niedergangs der antiken Kultur, der Völkerwanderung und der Pestwellen gründete er 529 das Kloster Montecassino. Für das Mutterkloster des Benediktinerordens schrieb er seine berühmte „Regula Benedicti“. Im 36. Kapitel der Ordensregel heißt es: „Die Sorge für die Kranken muss vor und über allem stehen: Man soll ihnen so dienen, als wären sie wirklich Christus.“ Jedes Kloster sollte künftig für die Pflege der Kranken und Schwachen einen eigenen Raum einrichten und einen Mönch dafür ausbilden, den Infirmar.
Geistige Bildung
Für Benedikt, dem Begründer des abendländischen Mönchtums, war neben der Krankenversorgung die geistige Bildung der Mönche ein großes Anliegen. Er empfahl, jeder Mönch sollte wenigstens ein Buch pro Jahr lesen, besonders während der Fastenzeit. Die Weitergabe der Kunst des Lesens und Schreibens war in den Klöstern sehr wichtig, um die Bücher vervielfältigen zu können und so das Wissen weiterzugeben. Ein Ordensbruder von Benedikt, Cassiodor (* um 485, † um 580), spielte eine weitere wichtige Rolle in der Entwicklung der Klosterheilkunde. Er forderte die Mönche in dem von ihm gegründeten Kloster Vivarium auf, die Eigenschaften der Kräuter und die Mischungen der Arzneien kennenzulernen.
Idealer Plan eines Klosters
Kaiser Karl der Große (747-814) förderte die Heilkunde seiner Zeit. Er ordnete in Klöstern und Städten den Anbau von bestimmten Obstsorten, von Gemüse- und Gewürzpflanzen sowie von Heilkräutern in einem Kräutergarten an. Durch seine Reformen wurde von den Klöstern die Voraussetzung für die medizinische Versorgung von kranken Menschen geschaffen. Der um 830 entstandene St. Gallener Klosterplan zeigt den idealen Plan eines Klosters. Es gibt nicht nur eine eigene Krankenstation, sondern auch einen Kräutergarten mit anschließendem Raum zum Trocknen und Lagern der Kräuter, die Apotheke. Für jede der 16 Heilpflanzen steht im Garten ein einzelnes Beet zur Verfügung.
Monopolstellung der Klöster
Die Klosterheilkunde hatte zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert ihre Blütezeit. Im Kloster Lorsch bei Worms wurde im 8. Jahrhundert das medizinische Wissen im „Lorscher Arzneibuch“ festgehalten. Im 11. Jahrhundert verfasste der Mönch Odo de Meungden „Macer floridus“, ein Standardwerk der Kräuterheilkunde, das überall in Europa Verbreitung fand. Mit der heilkundigen Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179) wird der Höhepunkt dieser Epoche der Medizingeschichte erreicht. Sie war die letzte Autorin bedeutender Werke der Klosterheilkunde. Zwischen 1150 und 1160 entstanden ihre medizinischen Werke „Physica“ und „Causae et curae“.
Hauptwerke der Klostermedizin
Lorscher Arzneibuch
Das „Lorscher Arzneibuch“ ist das älteste erhaltene Buch zur Klostermedizin aus dem abendländischen Frühmittelalter. Es markiert den Beginn der wissenschaftlichen Medizin im westlichen Europa. Entstanden ist es um das Jahr 795 in der südhessischen Benediktinerabtei Lorsch bei Worms. Die Handschrift stellt einen Meilenstein in der Medizingeschichte dar. Sie verbindet erstmals die Erkenntnisse der antiken, griechisch-römischen Medizin mit christlichen Glaubensinhalten.
Hortulus oder Liber de cultura hortorum
In seinem Gedicht „Gärtchen“ oder „Das Buch über die Gartenkultur“ schrieb im 9. Jahrhundert Walahfrid Strabo, ein Mönch des Klosters Reichenau im Bodensee, in 444 Hexametern zunächst über die Freuden und Mühen des Gartenbaues. Zudem schilderte er in 23 Strophen 24 Pflanzen. Es handelt sich dabei um ein literarisches Kunstwerk, das Wissen um die Heilkraft der Pflanzen dokumentiert. Es ist aber kein medizinisches Nachschlagewerk.
De viribus herbarum oder Macer floridus
Am Ende des 11. Jahrhunderts ließ sich der Mönch Odo Magdunensis vom Gartengedicht des Walahfrid Strabo inspirieren und schuf ein reines Lehrgedicht, um heilkundliches Wissen zu vermitteln. In der ersten Fassung des lateinischen Gedichtes „über die (Heil-)Kräfte der Kräuter“ beschrieb er die medizinischen Anwendungen von knapp 60 Pflanzen, in der Zweitfassung sind es 77. Odos Gedicht wurde sehr bald einem antiken Schriftsteller, Aemilius Macer aus Verona, zugeschrieben. Unter dem Titel „der blühende oder wieder erblühte Macer“ stiegen Odos Verse zum meistverbreiteten Kräuterbuch des gesamten Mittelalters auf.
Causae et curae und Physica
Im ersten Buch über die Ursachen und Behandlungen von Krankheiten versuchte Hildegard von Bingen Naturwissenschaft mit der christlichen Schöpfungs- und Erlösungslehre zu verbinden. Im Naturkundewerk „Physica“ stellte sie u.a. 230 Kräuter und ihre Wirkungen dar - die Ringelblume wird erstmals als Arzneipflanze erwähnt.
Wissen arabischer Ärzte
„Einer der entscheidenden Punkte war sicherlich auch, dass man arabische Werke ins Lateinische übersetzt hat“, sagte der Medizinhistoriker Johannes Gottfried Mayer im Herbst 2014 in einem Interview mit dem SONNTAG und meinte damit Constantinus Africanus. Der Nordafrikaner, wahrscheinlich medizinisch ausgebildet und vielleicht ein Händler von Gewürzen und Arzneidrogen, brachte das Wissen arabischer Ärzte nach Europa, als er etwa 1077 in Salerno eintraf. Er übersetzte dort und später als getaufter Laienbruder in Montecassino Werke der arabischen Medizin, die wiederum auf griechische Ärzte zurückgingen.
In Salerno, wo ursprünglich die Benediktiner von Montecassino eine Art Erholungsort hatten, entwickelte sich eine der ersten medizinischen Hochschulen, in der nicht mehr Mönche bzw. Kleriker, sondern vorwiegend Laien wirkten. Es bildete sich allmählich eine europäische Ärzteschaft heraus, die das Monopol der Klöster im medizinischen Bereich langsam auflöste.
Zum Ausprobieren
Der Würzburger Medizinhistoriker Johannes Mayer empfiehlt ein Rezept aus dem Lorscher Arzneibuch: Hustenbonbons, die auch schon Kaiser Karl der Große genommen habe dürfte. Außer- dem verrät er eine seiner Lieblingsrezepturen, einen Tee bei Bronchitis und anderen Beschwerden in den Atemwegen.
Hustenbonbons
Zutaten
2 Gramm Andorn
2 Gramm Thymian
2 Gramm Salbei
20 Gramm Ingwerpulver
3 Esslöffel Honig
Zubereitung
Die Kräuter im Mörser zerkleinern, dann Honig dazugeben, bis eine feste Masse entsteht. Daraus zwischen den Handballen mundgerechte Kügelchen formen.
Tipp: Damit die Kügelchen nicht zusammenkleben, diese noch einmal in Ingwerpulver wälzen.
Die Hustenbonbons können sofort gegessen werden und sind trocken gelagert bis zu einem Monat haltbar.
Achtung: Beim Einnehmen die Schärfe des Ingwers nicht unterschätzen.
Hustentee
Für ein Häferl einen halben Esslöffel Süßholzwurzel und einen gehäuften Esslöffel Thymiankraut in ein Sieb geben und heißes Wasser darauf gießen, 5 bis 10 Minuten ziehen lassen. Wenn man
den Tee nicht zu heiß trinkt, hilft er auch der Stimme.
Heilsplan Gottes
Die Klosterheilkunde hatte immer zwei Seiten: Neben der Sorge um den Körper (cura corporis) war die Sorge um die Seele (cura animae) den Klöstern wichtig. „Natürlich gab es neben der direkten Anwendung der Klostermedizin auch einen geistlichen Aspekt. Vor allem Hildegard von Bingen hat immer wieder darauf hin-gewiesen, dass der Mensch in dem ganzen Kosmos geborgen ist“, so Johannes Gottfried Mayer. „Die religiöse Seite, dass Gott für den Menschen einen Heilsplan hat, von der Schöpfung angefangen bis zum Ende, hatte eine zentrale Bedeutung und einen Einfluss auf die geistige Haltung der Menschen.“
Traditionelle Europäische Medizin wiederentdeckt
Der im März 2019 verstorbene Johannes Gottfried Mayer war Leiter der „Forschergruppe Klostermedizin“, die 1999 am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg mit dem Ziel gegründet wurde, das von den Mönchen und Nonnen gesammelte Heilwissen systematisch zu erfassen und somit das unerschöpfliche Wissen der Klostermedizin zu bewahren und der modernen Medizin so wieder Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „Im Mittelalter wurde eine Fülle von Pflanzen verwendet, wesentlich mehr als heute, etwa doppelt so viele. Es gab von diesen Pflanzen, die wir heute noch nutzen, andere und zum Teil wesentlich mehr Anwendungen, als wir sie heute kennen. Vieles davon war sicher sinnvoll, deswegen ist es notwendig, diese Klostermedizin und auch die darauffolgende Epoche genau zu erforschen“, sagte Mayer im SONNTAG-Interview.
„Die Traditionelle Europäische Medizin ist im 19. Jahrhundert in Vergessenheit geraten, weil man ganz andere Wege gegangen ist und vor allem synthetische Arzneimittel bevorzugt hat, in dem nur ein Wirkstoff drinnen ist. Man hat geglaubt, dass es wesentlich stärker ist, was zum Teil auch stimmt. Mittlerweise merken wir, dass wir mit einigen Pflanzen sehr gut therapieren können. Nicht zuletzt sind auch die Nebenwirkungen deutlich niedriger oder überhaupt nicht vorhanden.“