Wahl 2024: Demokratie und Respekt
MeinungJedes Engagement für Demokratie und Respekt verdient Unterstützung. Wenn man das demokratische Geschehen als argumentativen Wettbewerb um Lösungen versteht, welche dem Willen der Mehrheit entsprechen und die grundrechtlich gewährleisteten Rechte von Minderheiten achten, ist es jede Anstrengung wert, eigene Positionen zu akzentuieren und sich mit anderen politischen Positionen auseinanderzusetzen.
Meinung zur Nationalratswahl 2024
Für mich war und ist es dabei immer wichtig, im Dialog mit allen politischen Kräften zu bleiben, die nicht vom Verfassungsgerichtshof aus dem demokratischen Prozess ausgeschieden sind – auch wenn ich persönlich viele politischen Positionen von Dialogpartnern nicht teil(t)e.
Sünden im politischen Alltag
Dieser Zugang kann erklären, warum ich der Meinung bin, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten im politischen Alltag viel gesündigt wurde: Spätestens seit dem Auftreten der „spin-doctors“ am Ende der 1990er Jahre wurde eigene Konzepte als der Weisheit letzter Schluss präsentiert, Andersdenkende der Unehrlichkeit und des Populismus geziehen, ohne sich einzugestehen, selbst in die Populismusfalle zu tappen. Einzelne Positionen oder Formulierungen wurden verzerrt, Diffamierung wurde zur politischen Methode und der richtige Spin zur entscheidenden Dimension politischer Aussage. Gibt es aber nicht auch bei Andersdenkenden legitime Anliegen, die einer Antwort bedürfen? Sind Sachfragen nicht auch diskutabel, selbst wenn die Wortwahl befremdlich klingt? Sollen wir uns nicht alle als Suchende im Ringen um den besten Weg in die Zukunft des Landes begreifen? In Abwandlung eines biblischen Wortes könnte man sagen, dass zahlreiche politische Akteure den Balken im Auge des anderen gesehen, den Balken im eigenen Auge aber ignoriert haben.
Wahlkampf zur Nationalratswahl 2024
Im aktuellen Wahlkampf wird nun der Wunsch nach Demokratie und Respekt dazu verwendet, gegen eine bestimmte Partei und eine bestimmte Regierungskonstellation Stellung zu beziehen und Positionierung einzufordern. Eigenartig mutet mir vom wording her auch der Ansatz an, Leitlinien für eine Wahlentscheidung aus christlicher Sicht zu veröffentlichen, die noch dazu zu zentralen Anliegen katholischen Verständnisses wie dem Lebensschutz, kein Wort verlieren.
Angst vor dem Ende
Allerdings ist es reichlich spät, knapp vor einer Wahl Angst vor dem Ende der liberalen Demokratie und der sozialen Kohäsion zu artikulieren, und zu glauben, Menschen und Politik in eine bestimmte Richtung leiten zu müssen: Zweifellos besser wäre es (gewesen?), während der Legislaturperiode Politik auch durch Eingehen auf und in Auseinandersetzung mit den Anliegen Andersdenkender zu machen: Alle Erfahrung zeigt, dass Menschen, die sich nicht ernst genommen fühlen und abgekanzelt werden, rasch an die politischen Ränder gedrängt werden. So gesehen sind die Sorgen um die weitere Entwicklung des politischen Systems auch ein Ergebnis von Politikversagen während der letzten Legislaturperiode(n). Ist es aber legitim, bereits vor einer Wahl durch öffentlichen Druck das Ergebnis einer Regierungsbildung nach der Wahl zu präjudizieren, wenn man es nicht schafft, Wähler durch kluge Politik vom eigenen Standpunkt zu überzeugen?
Koalitionen nach der Nationalratswahl 2024
Ich selbst wähle nicht unter dem Blickwinkel, welche Koalition geschlossen werden soll, sondern frage mich, mit welcher Partei es die relativ größte Übereinstimmung in den Positionen gibt. Auch wenn die Schnittmenge unterschiedlich und zu keiner Partei übergroß ist, wäre es doch unverzeihlich, vom Wahlrecht nicht Gebrauch zu machen. Und: ich würde mir von niemandem eine Empfehlung erwarten, sondern – im Gegenteil: eine Empfehlung würde mich skeptisch machen, weil ich Sozialdruck in Wahlentscheidungen für demokratisch fragwürdig halte.
Koalitionsempfehlungen vor der Wahl
Fragwürdig sind für mich auch Koalitionsempfehlungen vor der Wahl: Die Aufgabe, eine Regierung zu bilden, ist eine überaus schwierige Prozedur, die zu einer tragfähigen Mehrheit führen muss. Wer aus nächster Nähe miterlebt hat, wie schwierig es sein kann, eine regierungsfähige Parlamentsmehrheit zu bilden, wenn das Wahlergebnis Extrempositionen gestärkt hat, muss einer Festlegung ex ante skeptisch gegenüberstehen. Ich habe vor jedem Politiker Respekt, der sich der Aufgabe stellt, mit Menschen im Interesse des Landes zusammenzuarbeiten, deren Positionen, Diktionen und Politik er selbst nicht teilt.
Zusammenarbeit nach der Nationalratswahl
Aus meiner Sicht macht man es sich auch zu einfach, Zusammenarbeit aus dem Ansatz des „nein, weil …“ auszuschließen; konstruktiver ist, positiv zu begründen, unter welchen Voraussetzungen Koalitionen geschlossen werden sollten: Ein „ja, wenn …“ kann Voraussetzungen eines „Aufeinander Zugehens“ definieren – auch wenn ein Zusammengehen im Ergebnis mit Bauchweh verbunden wäre. Dies trifft für mich für jede Regierungskonstellation zu, die ich erlebt habe und wird wohl auch in Zukunft so sein: es ist wohl ein Tribut an die Demokratie und des Respekts vor anderen Positionen, dass man sie in Koalitionen akzeptieren muss, selbst wenn man grundlegend anderer Meinung ist.
Keine Veranlassung für Wahlempfehlungen
Vom Standpunkt der Dachorganisation der katholischen Laienorganisationen sehe ich jedenfalls keine Veranlassung, eine Wahlempfehlung abzugeben oder mich für oder gegen eine bestimmte Koalition auszusprechen, weil ich weder das Wahlergebnis noch das Ergebnis von Koalitionsverhandlungen kenne. Der KLRÖ hat nicht die Aufgabe, Wahlempfehlungen oder gar Koalitionsempfehlungen zu machen, sondern die Mitglieder katholischer Organisationen zu vernetzen und zu informieren, damit sie verantwortete Entscheidungen treffen können. Im Übrigen traue ich Katholiken wie auch anderen Wahlberechtigten zu, dass sie eine vor ihrem Gewissen verantwortete Entscheidung in der Wahlzelle treffen, auch wenn es vielleicht nicht jene sein sollte, die ich treffe.
Druck auf den Wähler bei der Nationalratswahl
Wenn Vertreter von Organisationen meinen, durch das Gewicht ihrer Organisation und öffentlichen Druck den Wählern ein bestimmtes Wahlverhalten und den Gewählten eine bestimmte Regierungsbildung nahelegen zu müssen, erinnert das an vergangene patriarchale Zeiten und entspricht nicht einem modernen Verständnis von mündigen Bürgern in einer repräsentativen Demokratie. Ich erwarte mir daher auch nicht, dass „die Bischöfe“ eine parteipolitische Empfehlung in der jetzigen Situation abgeben: Dass durchwegs ältere Herren den Wählern erklären sollen, welche Partei sie wählen sollten, entspricht nicht dem Stand unserer Gesellschaft. Daher verstehe ich die Zurückhaltung der Bischöfe. Ich bin aber sicher, dass sie sich klar äußern, wenn Positionen vertreten werden, die aus kirchlicher Sicht abzulehnen sind, so wie das auch in der Vergangenheit geschehen ist.
Fähigkeit kritisch und bewusst zu denken
Und schließlich: Gar nichts halte ich davon, Wählern einer bestimmten Partei die Fähigkeit kritisch und bewusst zu denken, abzusprechen, oder zu unterstellen, ein schlafendes Gewissen zu haben, das erst wachgerüttelt werden müsse: Erfahrungsgemäß findet durch eine derart herablassende Herangehensweise eher eine Verhärtung statt, was in der aktuell kritischen Situation gefährlich ist. Außerdem vermisse ich in einer solchen Diktion den Respekt vor mündigen Bürgern in einer Demokratie.
Der Kommentar drückt die persönliche Meinung des Autors aus!
Zur Person
Wolfgang Mazal (64) ist Präsident des Katholischen Laienrates und Universitätsprofessor für Arbeits- und Sozialrecht.