Frau führt Caritas in die Zukunft

Nora Tödtling-Musenbichler
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Nora Tödtling-Musenbichler, geboren 1983, ist seit 1. Februar Präsidentin der Caritas Österreich. Die Sozialmanagerin leitet auch die Caritas Steiermark. ©Caritas Steiermark / Konstantinov
Nora Tödtling-Musenbichler und Sophie_Lauringer im Gespräch
SONNTAG-Chefredakteurin Sophie Lauringer im Gespräch mit der neuen Caritaspräsidentin, die sagt: „Es tut weh, wenn Mindestpensionistinnen zur Lebensmittelausgabe kommen.“ ©Kathpress/Paul Wuthe

Nora Tödtling-Musenbichler bricht als erste Frau an der Spitze von Caritas Österreich neue Wege auf. Ihre Mission: Not lindern und Nächstenliebe fördern. Ein tiefgehendes Interview.

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Frau Präsidentin Tödtling-Musenbichler, Sie haben sich schon in der Schule für Schwächere eingesetzt. Warum?

Aufgewachsen bin ich in Knittelfeld, einer typischen Eisenbahnerstadt. Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Als Kind durfte ich damals schon erleben, dass wir als Hausmeister-Familie immer für andere da waren. Meine Großeltern und meine Mutter haben mir vorgelebt, großzügig zu sein, weil man sehr viel zurückbekommt.

Wichtig war uns, dass die Kinder einmal am Tag eine Jause bekommen.

Bei uns in Knittelfeld hat es außerdem das sogenannte Scherbenviertel gegeben, wo ganz viele armutsbetroffene Menschen gelebt haben.Manche Kinder sind auch dort nicht zur Schule gegangen., Als Schülerin bin ich mit dieser Gegend in Kontakt gekommen. Parallel durfte ich mit einer Klasse – und einem sehr engagierten Religionslehrer – nach Rom fahren. Dort haben wir die Gemeinschaft Sant'Egidio kennengelernt, die sich vor allem um Notleidende gekümmert hat. Und eine Art Lerncafé. Und wir hatten die Idee, auch bei uns in Knittelfeld ein Lernzentrum für Kinder ohne Zugang zu Bildung zu gründen. Wir haben als Jugendliche begonnen, eine Nachmittagsbetreuung zu gestalten.

Ganz besonders wichtig war uns auch , dass die Kinder einmal am Tag eine Jause bekommen, weil wir auch gemerkt haben, dass sie hungrig in die Schule gehen. Und ich denke, da kann man die Parallele ziehen zu unseren über 69 Lerncafés der Caritas in ganz Österreich heute, wo es uns auch ganz wichtig ist, einerseits Bildung und Wertschätzung zu ermöglichen, aber auch ganz viel Freude. Kinder sollen dort lachen können und eine Jause bekommen. Noch heute müssen einige Kinder hungrig in die Schule gehen.

Pater Wolfgang Pucher, der Gründer der Vinziwerke in Graz, ist im Vorjahr verstorben. Sie waren jahrelang im Team der Vinziwerke. Was haben Sie von Pfarrer Pucher gelernt?

Wolfgang Pucher war mehr als ein Mentor und Wegbegleiter. Er war auch ein großer Freund. Und ich habe von ihm viel gelernt. einerseits sein großes Lebensmotto: „Geht nicht, gibt‘s nicht!“ Und wir haben herausgefunden, dassauch,wenn wir manches Mal vor Herausforderungen, vor Grenzen stehen, dass wir andere Möglichkeiten suchen müssen. Das nehme ich auch jetzt für meine Caritastätigkeit mit. Ich habe gelernt, dass Armut ganz viele Gesichter hat. Armut ist oft überhaupt nicht erkennbar. Wir müssen jene abholen, die sich nicht um Hilfe fragen trauen, die aus Scham vielleicht doch nicht kommen. Die großen Punkte, die ich von Pfarrer Pucher gelernt habe, sind seine Energie und sein Ehrgeiz nicht aufzugeben.

Pater Pucher konnte man ja als Aktivisten bezeichnen. Wie viel Aktivistin steckt in Ihnen? Wo packen Sie mit Ihren Händen an?

Pfarrer Pucher ist ja auf die Straße gegangen, um ein Zeichen gegen das Bettelverbot zu setzen. Ich durfte das damals organisieren und habe mich natürlich auch selbst auf die Straße gesetzt. Ich packe also sehr, sehr gerne an, ich bin gern bei den Menschen. Das heißt, ich habe Wohnungen für unsere Bewohnerinnen und Bewohner hergerichtet. Ich fahre mit dem Canisibus.

Ich bin täglich mit Menschen, die von Not betroffen sind, in Kontakt, weil es mir ganz wichtig ist, die Bodenhaftung nicht zu verlieren, hinzuhören, selbst zu erfahren, wie es den Menschen geht, die bei uns in der Lebensmittelausgabe anstehen müssen. Letzte Woche habe ich wieder Lebensmittel ausgegeben. Ich glaube, das tut auch der Caritas gut, dass wir immer wieder nahbar und zugänglich bleiben.

Michael Landau sagte in seinem Interview zum Abschied als Caritaspräsident, dass Frauen eine große Bereicherung in den Teams sind und dass die gemeinsame Arbeit von Männern und Frauen zu besseren Ergebnissen führt.

Es gibt für mich keinen Unterschied zwischen Mann und Frau in der Zusammenarbeit. Es geht darum, dass die richtigen Personen am richtigen Ort sitzen. Und da ist ganz klar, dass Frauen in Leitungspositionen bei uns in allen Bereichen tätig sind. Die Caritas könnte nicht arbeiten, wenn es nicht die vielen Frauen gäbe, gleichzeitig würden wir es auch ohne Männer nicht schaffen.

Caritas ist die Verkündigung mit Händen und Füßen.

Unbestritten ist die Caritas eine hochprofessionelle Hilfsorganisation. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Caritas nicht mehr Teil der Kirche ist.

Die Caritas ist eine Hilfsorganisation der katholischen Kirche und somit ein wichtiger Teil der sichtbaren Kirche, der Kirche, die mit Händen und Füßen anpackt, um Menschen in Not zu helfen. So werden wir auch wahrgenommen. Bischof Joachim Wanke aus Erfurt hat gesagt: „Caritas ist die Verkündigung mit Händen und Füßen.“ Ich sehe die Caritas als einen Teil dieser Verkündigung von Kirche und von gelebtem Christentum.

Zusätzlich leisten unsere Kollegen und Kolleginnen in den Pfarren mit ihrer freiwilligen Arbeit einen wichtigen Beitrag. Aktionen wie Klimaoasen oder Wärmestuben werden von Menschen getragen, die in der Kirche beheimatet sind. Um auch die spirituelle Dimension anzusprechen. Gerade im Pflegewohnhaus zum Beispiel beschäftigt uns oft die Frage: Gibt es einen Ort für Bewohner*innen, um Gottesdienste zu feiern?

Wie ermutigen und motivieren Sie Menschen zum Mitmachen?

Also ich bin sehr froh und dankbar, dass wir so ein großes Netzwerk dieser Mitmenschlichkeit in ganz Österreich haben. Wir haben 46.000 Freiwillige, die bei uns mitarbeiten und uns auch wirklich unterstützen. Die Motivation kommt meistens von den Freiwilligen selbst. Unsere Arbeit hat Sinn, man kann etwas bewegen, wir tragen dazu bei, dass das Leben für viele ein Stück weit besser wird. Wir spüren tagtäglich, dass das eine hohe Motivation für unsere Mitarbeitenden, Freiwillige und Hauptamtliche ist. Das Ehrenamt hat sich dabei verändert. Menschen können sich jetzt auch in Projekten aktiv engagieren. Ichdenke etwa an die Plattform „füreinand“ mit einer community von 40.000 Menschen, die helfen wollen.

Unser soziales System hat Lücken, wo Menschen durchfallen.

Wir haben viele soziale Brennpunkte. Wo sehen Sie die großen, dringlichsten Baustellen in Österreich?

Das eine ist ganz grundsätzlich ein armutsfester Sozialstaat. Wir spüren, dass vieles gut gelingt. Wir können glücklich sein, dass wir in Österreich leben. Aber unser soziales System hat Lücken, wo Menschen durchfallen, wo Frauenarmut noch immer ein großes Thema ist, wo Kinder auf ihrer Bildungsreise noch nicht mitgenommen werden und Kindernoch immer von Armut betroffen sind.

Ich denke da natürlich auch an den Bereich Pflege, wo wir in den nächsten Jahren vor großen Herausforderungen stehen, um genügend Menschen für die Pflege zu begeistern. Wir brauchen gute Rahmenbedingungen und auch viele engagierte Fachkräfte.

Wir müssen uns bekennen zu einer Gesellschaft, in der Demokratie und die Menschenrechte unumstößlich sind.

Strukturell gesehen geht es in der Armutsbekämpfung um die Reform der Sozialhilfe sowie um die Anhebung der Ausgleichszulage auf Höhe der Armutsgefährdungsschwelle. Davon sind wir noch entfernt. Wir wissen, dass diese zusätzlichen EUR 200,- viel Armut verhindern könnte. Das trifft vor allem jene, die ihr ganzes Leben eingezahlt haben. Pensionistinnen zum Beispiel, die zwar gearbeitet, jedoch Sorgepflichten für ihre Kinder getragen haben und deshalb nicht voll in die Pension einzahlen konnten. . Diese Frauen müssen jetzt bei uns in der Lebensmittelausgabe anstehen. Das tut weh und da braucht es eine Reform.

Wir müssen uns bekennen zu einer Gesellschaft, wo Solidarität ganz wichtig ist, wo das Miteinander und der Dialog gefördert werden und woDemokratie und die Menschenrechte unumstößlich sind.

Was ist eigentlich zu tun, damit Menschen wieder besser in den Arbeitsprozess finden?

Unser großer Wunsch ist, dass Menschen unsere Hilfe nur kurzfristig benötigen und dann wieder selbstwirksam leben könne.. Einerseits erlebe ich in unserer jetzigen Gesellschaft viele Menschen, die mit dieser Schnelllebigkeit, den Krisen überfordert sind, die aufgrund ihrer psychischen Verfassung nicht in der Lage sind, einer Vollzeitarbeit nachzugehen. Hier unterstützen wir in vielen Beschäftigungsprojekten. Das fängt schon bei Jugendlichen an, die in der Schulzeit schon massiv unter Druck stehen, die dann ausbrechen und nicht mehr können. Wir versuchen, sie in den Arbeitsmarkt zu bringen. Das gelingt auch, wenn wir genug Zeit und Ressourcen haben.

Das andere ist, dass viele Frauen Teilzeit arbeiten. Wir brauchen genügend Kinderbetreuungsplätze, damit Frauen auch Vollzeit arbeiten gehen können.

Und natürlich kommt auch dazu, dass wir Arbeit wieder neu definieren müssen. Ich glaube, dass es eine Life-Life-Balance gibt und keine Work-Life-Balance. Es geht jetzt nicht nur um mein persönliches Wohlbefinden, sondern Arbeit ist Teil unseres Lebens. Gerade junge Menschen haben neue Formen gefunden, um ihre Arbeit anders zu gestalten. Sie haben andere Arbeitszeitrhythmen, arbeiten zum Beispiel in der Nacht, weil sie dann produktiver sind. Auch wir als Arbeitgeber in der Caritas müssen uns ständig anpassen. Wir haben von fünf Stunden Beschäftigung über Vollzeit, über Homeoffice alle möglichen Formen, die wir jetzt umsetzen.

Die Mindestsicherung ist keine soziale Hängematte, sondern das letzte Auffangnetz, damit man überhaupt leben kann.

Für uns ist es aber wichtig zu sagen, dass die Mindestsicherung keine soziale Hängematte ist, sondern das letzte Auffangnetz, um überhaupt leben zu können. Ja, Leistung soll sich auch lohnen. Es braucht faire Rahmenbedingungen, damit Menschen gerne arbeiten. Da ist Lohn einer der großen Bereiche. Ess geht aber auch darum, wie ich mich in meiner Arbeit fühle. Das erleben wir tagtäglich bei uns. Bei uns ist „Caritas“ mehr als nur ein Job. Es ist viel Begeisterung. Da ist viel Freude dabei, weil wir auch gute Rahmenbedingungen bieten können. Und das wünsche ich mir natürlich auch für andere Arbeitsfelder.

Sind Sie auch für internationale Projekte zuständig? Welche internationalen Projekte haben Sie schon kennengelernt und besucht?

Ich durfte genau vor einem Jahr in Burundi sein, um unsere Projekte vor Ort zu besuchen. Ich werde heuer auch noch eine Auslandsreise nach Afrika unternehmen. Ich war auch schon in der Slowakei, in Rumänien, in Bulgarien. Es ist mir wichtig, unsere Projektpartner kennenzulernen. Burundi war für mich sehr berührend. Wir betreiben dort mit unseren Partnern Waisenhäuser, und Ernährungsstationen. Da sehen wir, dass die Spendengelder ankommen. Da wird Zukunft wirklich sichtbar. Man sieht, dass diese Kinder aus der Armut herausgeholt werden und neue Perspektiven bekommen.

Kann man messen, was die Hilfe bewirkt?

Wir haben strenge Überprüfungsmechanismen. Wir haben Kennzahlen und dort wird immer auch ersichtlich, bei Projektbeginn und Projektende, was sich getan hat. Das haben wir in Zahlen. Und es ist sichtbar, wie sehr sich Lebensbedingungen verändern.

Spendenorganisationen brauchen großes Vertrauen. Wie schätzen Sie das ein? Wofür spenden Österreicher besonders gern? Und was bedeutet das für die Caritas?

Ich bin sehr dankbar, dass uns so viele Menschen mit ihrer Spende ihr Vertrauen schenken. Wir sind österreichweit an erster Stelle im Spendenranking (1). Da hat man die Gewissheit, die Spende kommt dort an, wo die Spenderinnen und Spender es haben möchten. Es gibt zusätzlich viele, die uns vertrauen und die sagen: „Wo ihr gerade Not habt, setzt das Geld bitte ein.“ Krisen kommen unerwartet. Hier erleben wir große Solidarität und Vertrauen, dass wir als große Organisation gute Partner sind.

Die Amtskirche ist im Vertrauensindex (2) nicht im höchsten Ranking. Die Caritas hingegen schon. Woran machen Sie das fest?

Die Caritas ist vielleicht die sichtbare Säule von Kirche, bei der man spürt, was sie macht, bei derganz konkret positive Erfahrungen gemacht werden. Da tut sich die Kirche oft auch schwerer, weil sie viele andere Aufträge hat. Wir fragen konkret bei den Menschen: „Was braucht ihr von uns?“ So werden wir als Caritas vielleicht präsenter und positiver wahrgenommen.

Es ist mir wichtig, Kirche mitzugestalten.

Sie sind katholisch. Was ist Ihnen wichtig? Wie sind Sie in der Kirche engagiert?

Für mich ist Kirche an sich wichtig. Ich bin hier beheimatet, weil ich glaube, dass Kirche ein großes Potenzial hat und viel Positives bewegt, Halt, Hoffnung und Zuversicht gibt.  Gerade in Krisenzeiten, in Kriegszeiten, in Unsicherheit. Das darf man nicht unterschätzen. Kirche ist auch eine Gemeinschaft. Ich bin sehr gern in dieser Gemeinschaft. Ich bin im Pfarrgemeinderat, ich bin in unterschiedlichen Kreisen, weil es mir wichtig ist, Kirche mitzugestalten.

Eine Frage zum synodalen Prozess: Papst Franziskus hat gleich am Anfang einmal gesagt: „Ich wünsche mir eine arme Kirche.“ Diese Ziele sind diskutiert worden. Wie empfinden Sie dieses Pontifikat, hat es die Kirche sensibler gemacht für Menschen in Not?

Mit der Amtszeit von Papst Franziskus ist vieles sichtbar geworden im Hinblick auf Arme, Notleidende, aber auch auf unsere brennenden Themen: das ist die Klimakrise, das ist der Umgang mit Mitmenschen auch in Nöten. Das Kümmern um armutsbetroffene Menschen , wird ja schon lange gelebt. Gerade in den Orden, die beispielsweise als Erste Armenausspeisungen gemacht haben. Ich glaube, der Papst hat das wieder zur Sprache gebracht und das ist gut so. Ich wünsche mir auch eine Kirche, die für arme Menschen da ist. Das heißt jetzt nicht, dass wir alle arm sein müssen, sondern dass wir diese große Kluft zwischen Arm und Reich kleiner machen.

Das passt gut zum synodalen Prozess. Franziskus hat ihn angestoßen, weil er wissen wollte, was Kirche auf dieser Welt bedeutet. Und wir sehen jetzt ein großes Bild an unterschiedlichsten Themen. In Afrika gibt es zum Beispiel ganz andere Ansprüche an Kirche, als wir sie in Europa haben.

            (1) siehe Spendenbericht 2023
           (2) siehe OGM/APA-Vertrauensindex 2023

Autor:
  • Stefan Hauser, Sophie Lauringer, Georg Pulling und Paul Wuthe
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