Spurensuche nach dem Holocaust
Als Bobby Robert wurdeAlles begann mit einer Seite in der Zeitung „Manchester Guardian“ vom 3. August 1938. Verzweifelte jüdische Eltern aus Wien baten für sieben Kinder um Aufnahme in englischen Familien. Ihre Hellsichtigkeit kann man nicht genug betonen und bewundern. Sie hatten innerhalb weniger Monate erkannt, dass es im Nazi-Regime keine Zukunft für sie gab. Eines der Kinder war Bobby Borger – sein Sohn Julian hat als Journalist die Lebensgeschichten der Kinder recherchiert und aufgeschrieben. Im Zentrum steht sein Vater, der in England zu Robert wurde und am Trauma und der Flucht vor dem Holocaust schlussendlich zerbrochen ist und 1983 Suizid beging.
Mister Borger, wie ist es Ihnen bei der Recherche der Geschichten Ihres Vaters gegangen?
Julian Borger: Mir wurde klar, dass ich tief in unserer eigenen Familiengeschichte graben muss und dass wir uns seit dem Tod meines Vaters nicht mehr wirklich intensiv damit beschäftigt hatten. Und manchmal war das emotional unglaublich anstrengend. Das Bedauern darüber, dass ich nie mit meinem Vater über dieses Thema sprechen konnte, saß sehr tief. Aber es war auch eine freudige Erfahrung. In vielerlei Hinsicht war es ein großes Vergnügen, diese anderen Familien mit dieser gemeinsamen Geschichte zu finden, sie anzurufen und ihnen diese Anzeigen zu zeigen und so eine Verbindung zwischen uns herzustellen. Aber ich fand dabei auch etwas heraus, was mich noch stolzer auf meine Familie machte: dass sie nicht nur sehr schlau und clever waren, sondern dass auch Familienmitglieder heldenhaft waren. Das hat mich dazu gebracht, anders über meine eigene Familie zu denken.
Holocaust: Auslöschung der jüdischen Bevölkerung
Die Idee für die Anzeigen kam von der Israelitischen Kultusgemeinde. Eine dieser Anzeigen begann mit den Worten: ‚Inbrünstiges Gebet aus großer Not‘ Haben Sie jemals bedauert, dass Sie nicht mit einer Verbindung zur jüdischen Religion aufgewachsen sind?
Das war nie eine Option. Ich denke, dass meine Familie seit Generationen säkular war. Sie war politisch links eingestellt. Religion war wirklich nicht auf meinem Radar. Als ich in Polen war und angesichts der Tatsache, dass die jüdische Bevölkerung dort ausgelöscht wurde, interessierte ich mich für die winzigen Reste der jüdischen Gemeinde. Und es gab dort einen besonders charismatischen Rabbiner, einen New Yorker namens Rabbi Michael Shudrick. Ich lernte ihn kennen, und so habe ich ein wenig Zeit in der Synagoge verbracht. Ich glaube aber, dass meine säkularen Wurzeln so tief waren, dass das nie wirklich eine Option für mich war.
Zum Schluss haben sie ihn doch noch gekriegt.
Opfer des Nationalsozialismus
Die Pflegemutter Ihres Vaters hat nach seinem Suizid gesagt, dass Robert das letzte Opfer des Nationalsozialismus war. ‚Zum Schluss haben sie ihn doch noch gekriegt.‘ Haben Sie eine Erkärung, was ihn letztendlich gebrochen hat?
Nein, ich glaube nicht, dass es eine Erklärung gibt. Er hatte eine Last. Nancy, seine Pflegemutter, die ihn schon als kleines Kind gekannt hatte, sah dieses sehr verletzliche Kind, das in einem fremden Land völlig verloren war. Es war traumatisiert. Und so war sie sich des Jungen in dem Mann bewusst. Was wir natürlich nie gesehen haben, denn als Mann hat er sich nie gestattet, sich auf diese Weise verletzlich zu zeigen.
Wie haben Sie in Ihrer eigenen Familie die Geschichte Ihres Vaters weitergegeben?
Ich habe einen 18-jährigen Sohn. Und ich habe keinen Druck auf ihn ausgeübt, das Buch zu lesen. Eines der Privilegien, das Buch schreiben zu können, ist, dass ich unsere Familiengeschichte aufzeigen konnte. Das Gute und das Schlechte. Ich glaube, es ist ein menschliches Bedürfnis, zu wissen, woher man kommt.
Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit und des Holocaust in Wien
Was empfinden Sie für Wien, die Stadt Ihrer Familie?
Immer mehr. Ich finde, dass die Stadt im Laufe der Zeit immer lebendiger und entspannter geworden ist. Ich denke, dass die Aufarbeitung der Kriegsereignisse und der Vergangenheit der Stadt und des Landes dazu beigetragen hat, dass die Stadt sich angenehmer anfühlt als je zuvor.
Kulinarisch mit Wien verbunden
Ihre Großmutter Erna konnte zu ihrem großen Kummer nach dem Krieg nicht wieder in Wien Fuß fassen. Aber sie hat ihre Heimat kulinarisch immer hochleben lassen. Haben Sie die Liebe zu Mehlspeisen von Ihrer Großmutter geerbt?
Meine Großtante Malci schickte jedes Weihnachten diese Pakete mit Mannerschnitten und mit Mozartkugeln. Wenn meine Großmutter kam, machte sie Schnitzel, Liptauer und Linzer Torte. Meine Kindheit hatte also definitiv den Geschmack von Wien. Wenn ich in Wien ankomme, dann muss ich mindestens ein Schnitzel essen.
Zur Person: Julian Borger
Julian Borger ist Journalist bei der Zeitung „The Guardian“. Sein Vater floh vor dem NS-Regime nach Großbritannien.
Buchtipp:
Suche liebevollen Menschen - Julian BorgerJulian Borger, Suche liebevollen Menschen. Molden Verlag 2024. ISBN: 978-3-222-15131-6, 308 Seiten, EUR 30,–