Als Mailand gegen die Seuche ansang
Medizin- und GlaubensgeschichteIm heurigen März gingen die Videos durch die Welt: Die Italiener singen von ihren Fenstern oder Balkonen aus gegen Corona und ihre Einsamkeit in der Quarantäne an. Auch in Österreich gab es ein paar zaghafte Versuche. Ein solches Ansingen gegen die Seuche hat einen Vorläufer in Mailand im Jahr 1576: Die Pest war in die Stadt gekommen, und die Führungsriege hatte sich in großen Teilen aus dem Staub gemacht, allen voran der Statthalter Ayamonte. Die Menschen waren in Panik, und die einzige verbliebene Autorität war ihr Erzbischof Karl Borromäus – ein wegen seiner Sittenstrenge nicht eben beliebter Kirchenmann, erst 37 Jahre alt. Asketisch und unermüdlich in seinem Eifer für eine erneuerte und wahrhaftige Kirche war er den verweltlichten Klerikern so auf die Zehen gestiegen, dass sogar ein Mordanschlag auf ihn verübt worden war. Und dann kam also die Pest. Kurz zuvor war sie schon in Venedig ausgebrochen, wo man in einem „Shutdown“ sofort alles öffentliche Leben unterbunden hatte. Die meisten italienischen Städte hatten bereits ein gut funktionierendes Gesundheitssystem mit einem Magistrat, der Maßnahmen zur Verminderung der Ansteckungsgefahr verfügte. So war etwa der Maler Tizian, der in Venedig an der Pest starb, der Einzige, der dort ein kirchliches Begräbnis erhielt.
Gottes Zorn und die Medizin
Auch in Mailand gibt es einen solchen Magistrat, aber die meisten Mitglieder waren aufs Land geflohen. So übertragen sie dem Bischof alle politischen Vollmachten, um die Seuche zu bekämpfen. Und Karl Borromäus ist ganz Kind seiner Zeit, in der der medizinische Kampf gegen die Seuche Hand in Hand ging mit der Überzeugung, dass eine Epidemie eine Strafe Gottes ist, die nur durch Umkehr und Buße beendet werden könne. Man kannte das Konzept der Ansteckung durch Viren und Bakterien noch nicht, und es war den Menschen unerklärlich, warum eine Krankheit wie die Pest plötzlich auftritt, ganze Orte existenziell bedroht und dann wieder verschwindet. Das konnte nur mit den Gestirnen zu tun haben oder mit dem Zorn Gottes.
Karl liest über 100 medizinische Bücher, um die richtigen Maßnahmen gegen die Seuche treffen zu können. Er lässt Lazarette errichten, verfügt die Trennung der Kranken von den Gesunden, verordnet Desinfektions- und Hygienemaßnahmen, zum Beispiel Mindestabstände in der Kirche. Er ist gleichzeitig davon überzeugt, dass die Frivolität der Mailänder diese Strafe auf die Stadt herabgerufen hat und Gott die Menschen damit zur Umkehr und zur Rettung ihrer Seelen bringen möchte.
Daher organisiert er drei große Prozessionen – bei denen jede Pfarre gesondert marschieren musste, um die Ansteckungsgefahr zu verringern. Menschenansammlungen galten zwar als bedenklich. Aber weil man weder über die Übertragung der Krankheit noch deren Bekämpfung Genaues wusste, setzte sich die Hoffnung durch, dass die Bußprozessionen letztlich doch das stärkste Medikament gegen die Plage sein könnten.
Karl selber geht barfuß, mit den Insignien eines Verurteilten, mit und bietet sich Gott als Opfer dar für die Errettung des Volkes. Und tatsächlich setzt er sein Leben ein. Er besucht Kranke, spendet ihnen die Sterbesakramente, geht in die Pesthäuser und räumt dort auf. Dabei passt er auf, niemanden in Gefahr zu bringen. So versucht er seine Hände über einer Kerzenflamme zu desinfizieren, nachdem er Kranken die Kommunion gereicht hat. Und sein ganzes Vermögen gibt er für die aus, die in der Epidemie ihren Lebensunterhalt verloren haben.
Aber die Pest-Seuche wird nicht schwächer, sodass schließlich auch in Mailand strenge Quarantäne angeordnet wird. Der Erzbischof schreibt über „sein“ Mailand, das einst so stolz war und nun so tief gefallen ist: „Deine Straßen und öffentlichen Plätze sind verlassen, deine Kirchen leer, deine Märkte geschlossen, deine Häuser dem Verfall preisgegeben.“
Karl sorgt sich darum, wie die Bekehrung der Mailänder auch in der sozialen Isolation weitergehen kann – das ist für ihn ja der tiefere Sinn dieser Epidemie. Er geht mit der Kommunion durch die Straßen und er hört, an der Schwelle vor der Tür sitzend, Beichte. Er lässt auf den Plätzen Messen feiern, damit die Menschen in ihren Häusern daran teilnehmen können. Denen, die nicht dabei sind, empfiehlt er, „im Geiste in die Kirche zu gehen“.
„Man hörte nichts als Lieder“
Auch die Prozessionen werden in die Häuser „verlegt“. Der Erzbischof hat dazu sieben Gebetszeiten pro Tag angeordnet. Wie der kanadische Musikhistoriker Remi Chiu schreibt, machen die Kirchenglocken den Anfang, die „die sakrale Sphäre der Kirche in die Privathäuser ausdehnen“. Dann beginnen die Menschen unter Anleitung ihrer Pfarrer, Litaneien zu singen, in Richtung der Kathedralen. Sie stehen an ihren Fenstern und auf ihren Terrassen, und singen in Gruppen hin und her, wie bei den Prozessionen üblich. „Mit ihren ineinanderfließenden Stimmen“, so Chiu, „überwinden die Betenden die Mauern ihrer Häuser und zwischen ihren Häusern und den Straßen und lassen die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Gottesdienst verschwimmen.“
Dieses Einswerden im Gebet hat auch den ersten Biograph des Heiligen Karl, seinen Zeitgenossen Giovanni Pietro Giussani, tief beeindruckt: „Das war ein Anblick, als alle Bewohner dieser großen Stadt, fast 300.000 Seelen, sich vereinten, um Gott zur gleichen Zeit zu preisen, indem sie eine gemeinsame harmonische Stimme mit der Bitte um Befreiung von ihrer Plage emporsteigen ließen.“ Ein anderer Beobachter, Paolo Bisciola, hat festgehalten: „Als die Praxis der Prozessionen unterbrochen wurde, um die Pest-Seuche nicht noch mehr anzuheizen, hörten die Litaneien nicht auf, weil jeder sie von seinem Fenster oder seiner Tür aus sang. Denk nur: Durch Mailand gehend, hörte man nichts als Lieder, Gott verehrend und die Engel bittend – so dass man sich fast gewünscht hätte, die Drangsal hätte noch länger gedauert.“
Zu Weihnachten 1576 war die Pest weitgehend besiegt, die Menschen durften wieder ins Freie. Ein Jahr später kam das offizielle Ende der Epidemie in Mailand, die zum großen Erstaunen aller nur 17.000 Todesopfer gekostet hatte.
„Deine Straßen und öffentlichen Plätze sind verlassen, deine Kirchen leer, deine Märkte geschlossen, deine Häuser
dem Verfall preisgegeben.“Hl. Karl über Mailand in Quarantäne 1576
Karl Borromäus
Der Heilige Karl (1538-1584) entstammt der hochadligen und schwerreichen Familie Borromeo, die heute noch am Lago Maggiore ansässig ist. Sein Onkel ist Pius IV., der Karl nach Rom holt, ihn mit 21 Jahren ohne Priesterweihe zum Kardinal, päpstlichen Außenminister und Administrator der Erzdiözese Mailand macht.
Karl erweist sich als fähiger Verwalter, imponiert aber vor allem durch seine Ernsthaftigkeit. Mit 25 macht er reinen Tisch: Er holt die Priester- und Bischofsweihe nach, legt alle römischen Ämter nieder und geht nach Mailand, um den Menschen dort ein guter Hirte zu sein. Seit 80 Jahren hat sich kein Bischof mehr in Mailand aufgehalten.
Karl Borromäus widmet sich mit großem Eifer der Reform der Kirche und des Klerus, macht sich dadurch aber auch viele Feinde. Erst in den Pestjahren 1576-78 erwirbt er sich durch den selbstlosen Einsatz gegen die Seuche, seine Freigiebigkeit und sein Organisationstalent die Liebe der Mailänder.
Durch sein asketisches Leben und den unermüdlichen Einsatz geschwächt, stirbt Karl Borromäus schon mit 46 Jahren. Bereits 26 Jahre später wird er heiliggesprochen. Er ist der Patron der Seelsorger und Seminaristen.