Schwangerschaft: Am Anfang des Lebens
Serie zur BioethikClaudia Versluis, Leiterin des Zentrums NANAYA, über die Lebenswelt des Embryo. Schwangerschaft und vor allem auch die Schwangerenbegleitung ist heute auf Risiko, auf Probleme und Problembehebung fokussiert“, sagt die Stillberaterin und diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester Claudia Versluis im Gespräch mit dem SONNTAG: „Werdende Mütter meinen nur mehr dann zu wissen, wie es ihrem Baby geht, wenn es ihnen der Gynäkologe sagt. Doch können die Geburtshelferinnen und Geburtshelfer wirklich fühlen, wie es dem Baby geht?“
Schwangerschaft: Alles Erlebte wird gespeichert
Seit vielen Jahren arbeitet Claudia Versluis auf dem Gebiet der Prä- und Perinatalpsychologie und beschäftigt sich damit im Besonderen mit der Zeit vor und während der Geburt und die Auswirkungen dieser Lebensphasen auf den Menschen. Wie eine Schwangerschaft verläuft und wie die Umstände der Geburt sind, ist nicht egal, so die Überzeugung der Prä- und Perinatalpsychologie. In Claudia Versluis Praxis kommen Eltern mit ihren Babys und Kleinkindern, die auffallend viel weinen, die sich schwer trösten lassen, die in sich gekehrt wirken oder auffällige Bewegungsabläufe zeigen. Gemeinsam mit den Eltern und den Kindern beleuchtet Claudia Versluis Schwangerschaft und Geburt und „überschreibt“ traumatische Erlebnisse. Sie hilft, den Kindern und den Eltern die gemachten Erfahrungen zu integrieren und zu verarbeiten. „Das geht mit Babys, mit Kindern aber auch noch im Erwachsenenalter“, sagt Claudia Versluis: „Wenn etwas nicht ideal gelaufen ist, kann man auch im Nachhinein wieder viel gut machen. Dieses Wissen ist in unserer Gesellschaft noch viel zu wenig verankert.“
Stressfaktor Geburt
Grundsätzlich sei eine Geburt immer eine stressige Situation für das Baby, sagt sie – selbst dann wenn sie sprichwörtlich „bilderbuchmäßig“ abläuft. „Der Geburtsvorgang geht mit einer Menge körperlichem Druck einher, es wirken starke Kräfte auf das Kind und die spürt es auch.“ Das Baby erlebt Stress, Schmerzen, Erschöpfung und Orientierungslosigkeit „Es ist ja beim Geburtsvorgang mit einer ganz neuen Situation konfrontiert. So etwas hat es noch nicht erlebt, dann muss es sich auch noch richtig drehen, um sich seinen Weg hinaus in die Welt zu bahnen. Das alles geht nicht spurlos an ihm vorbei.“ Ist dann vielleicht auch noch die eine oder andere Intervention notwendig – Saugglocke, Zangengeburt, Kaiserschnitt – dann kann es richtig schwierig für das Baby werden. Wohlgemerkt: Kann – nicht muss. „Manchmal ist eine Intervention sinnvoll und notwendig, um dem Baby auf die Welt zu helfen und um Mutter und Kind zu schützen.“ Interventionen wie ein geplanter Kaiserschnitt machen es dem Baby dabei übrigens nicht leichter. Im Gegenteil. „Bei einer vaginalen Geburt wird das Baby von seinen Eltern über Stunden begleitet und eine Geburt besteht aus vielen Abschnitten, die gemeinsam erfolgreich bewältigt werden. Durch diese gemeinsamen Mühen, vertieft sich die Bindung. Ein geplanter Kaiserschnitt ist aus der Sicht des Kindes immer schwieriger zu verarbeiten.“
Schon ein Embryo im Mutterleib hat Gefühle - alles Erlebte wird für das gesamte Leben gespeichert.
Schwangerschaft: Auch ein Embryo hat Gefühle
Aber nicht nur die Geburt ist eine prägende Erfahrung für das Baby. „Ein Baby hat Gefühle – von Anfang an“, sagt Claudia Versluis. „Natürlich kann es nicht kognitiv denken“, räumt sie ein: „Aber es hat ein Gefühlsspektrum und alles Erlebte wird gespeichert. Wir haben eine Zellerinnerung, wir haben eine Körpererinnerung, die man auch noch als Erwachsener in speziellen Therapien abrufen kann.“ Wissenschaftler sind sich heute sicher, dass bereits ganz am Anfang des Lebens komplexe Interaktionen stattfinden. „Schon Eizelle und Spermium kommunizieren miteinander, um einander zu finden“, sagt Claudia Versluis. Ab etwa der 6. Woche sei das Baby über die Nabelschnur mit dem Blutkreislauf der Mutter verbunden und bekomme über Hormone und andere Botenstoffe im Blut eine Flut an Informationen. „Alle emotionalen und psychischen Reaktionen der Mutter gehen dann ungefiltert zum Kind. Ab der 9., 10. Woche macht der Embryo willentlich Bewegung, dreht sich, schiebt etwas von sich weg.“
Pränataldiganostik kritisch hinterfragen
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse über die Geburt und die Zeit vor der Geburt, sieht Claudia Versluis die Pränataldiagnostik, wie Nackentransparenzmessung oder den Combined Test sehr kritisch: „Wir sollten uns fragen, welche Untersuchungen sinnvoll sind, welche Eltern und Kind wirklich etwas bringen“, sagt sie, denn natürlich gebe es auch sinnvolle Diagnoseverfahren. Claudia Versluis nennt in diesem Zusammenhang etwa das Organ Screening, einen Ultraschall, der zwischen der 20. und der 24. Schwangerschaftswoche durchgeführt wird und bei dem alle angelegten Organe des ungeborenen Kindes genauer untersucht werden. Doch überall, wo es um Wahrscheinlichkeiten gehe und nicht um Diagnose, müsste die Untersuchung kritisch hinterfragt werden. „Grundsätzlich würde ich sagen: Alles, was den Eltern Angst und Sorgen bereitet oder Gefahren wie eine Frühgeburt birgt, ist in der Regel nicht sinnvoll.“ Und auch die künstliche Befruchtung müsste vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Prä- und Perinatalpsychologie „kritisch hinterfragt“ werden. „Wie passieren die einzelnen Schritte im Labor? Auch unsere Entstehungsgeschichte hat einen Einfluss auf das weitere Leben. Es ist einfach nicht egal, wie wir gezeugt werden, wie wir im Mutterleib wachsen und wie unsere Geburt verläuft“, so Claudia Versluis.
In der Schwangerschaft einen Gang zurückschalten
Für die Schwangere selbst bedeuten all diese Erkenntnis über das vorgeburtliche Leben, dass sie auf ihren Körper, auf ihre „innere Stimme“ hören sollte. „Wenn sie müde ist, soll sie sich ausruhen. Wenn es zu stressig ist, die Arbeit sein lassen. Dazu müssen werdende Mütter allerdings auch ermutigt werden“, ist Claudia Versluis überzeugt: „Schwanger zu sein ist keine Krankheit, wird oft propagiert und das stimmt natürlich, aber Schwangere brauchen Entlastung, brauchen Zeit für sich, für das Ungeborene.“ Damit das funktioniert müssten alle mitspielen – die Familie, der Arbeitgeber, die Gesellschaft. Gerade die Zeit vor der Geburt sei eben auch eine hervorragende Zeit, um im positiven Sinn Einfluss auf das Baby zu nehmen, mit ihm eine Beziehung aufzubauen. Aus der Bildungsanalyse – auch vorgeburtliche Beziehungsförderung – weiß man, dass sich eine starke Bindung im Mutterleib, positiv auf die körperliche und seelische Gesundheit eines Menschen, seine spätere Beziehungsfähigkeit, seine gesamte Persönlichkeitsentwicklung auswirkt. „Mütter müssten auch viel mehr ermutigt werden, mit ihrem Kind schon im Mutterleib in Kontakt zu treten. Immer wieder soll dieser Kontakt stattfinden, mehrmals am Tag. Das tut den Kindern gut, aber auch den Müttern – dieses in sich hineinhören, das Baby spüren, sich an ihm freuen, es kennen lernen.“
Lexikon: Prä- und Perinatalpsychologie
Die Prä- und Perinatalpsychologie beschäftigt sich mit der Bedeutung der kindlichen Erfahrungen vor, während und kurz nach der Geburt und den Auswirkungen dieser Erfahrungen für die weitere psychosoziale Entwicklung des Kindes.
Eine der bekanntesten Arbeitsschwerpunkte der Prä- und Perinatalpsychologie ist die Bindungsanalyse oder auch vorgeburtliche Beziehungsförderung, eine Methode, bei der schwangere Frauen dazu angeleitet werden, mit ihrem noch ungeborenen Kind eine tiefe Beziehung aufzubauen. Die vorgeburtliche Beziehungsförderung bzw. Bindungsanalyse stärkt außerdem die Kompetenz und Feinfühligkeit der Eltern in der Kommunikation mit dem Kind auch nach der Geburt.
Nähere Informationen: www.bindungsanalyse.at
Zur Person
Claudia Versluis, Leiterin des NANAYA (Zentrum für Schwangerschaft, Geburt und Leben mit Kindern), Dipl. Gesundheits- und Krankenschwester und Stillberaterin.
ACHTUNG: Dieser Artikel stammt aus dem Jahr 2016.