„Rückbesinnung auf prophetisches Erbe“
Glaube und VernunftHans Schelkshorn, Religionsphilosoph an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, leitet das „Institut für interkulturelle Religionsphilosophie“. Mit einer Reihe von sechs Vorträgen fragt die „Akademie am Dom“ ab dem 20. November nach der Zukunft des Christentums in Europa und darüber hinaus. Vor einigen Jahren erfolgte die Umbenennung des Instituts, das früher „Christliche Philosophie“ hieß. „Christliche Philosophie ist selbstverständlich noch immer ein zentraler Schwerpunkt des Instituts, aber da das Christentum in zahlreiche Kulturen eingedrungen ist, ist das Christentum selbst immer schon auch interkulturell geprägt“, sagt Schelkshorn zum SONNTAG. Das Christentum war ja ursprünglich eine orientalische Religion, die langsam in den europäischen Bereich eingedrungen ist, betont Schelkshorn. Gegenwärtig sei das Christentum besonders stark präsent in Afrika und Lateinamerika, ein Forschungsschwerpunkt des Instituts ist daher die lateinamerikanische Philosophie und Theologie mit den „enormen kreativen Prozessen seit dem 16. Jahrhundert“. Interkulturell bedeutet zudem auch, dass das Christentum mit den Globalisierungsprozessen der Neuzeit auch in einen intensiveren Austausch mit anderen Kulturen und Religionen eingetreten ist, etwa in Indien oder China.
Glaube und Vernunft: Praxis der Gerechtigkeit
Was spricht Sie an der lateinamerikanischen Philosophie (und Theologie) der Befreiung an?
HANS SCHELKSHORN: Die prophetische Dimension des Christentums ist in der Geschichte, das muss ich als Philosoph einräumen, gerade durch philosophische, genauer platonistische Reinterpretationen immer wieder verdrängt worden. Dadurch wurde die christliche Botschaft vom Anbruch des Reiches Gottes in einseitiger Weise verjenseitigt. Die Theologien und Philosophien der Befreiung korrigieren in gewisser Hinsicht diese problematische Entwicklung. Für die Propheten Israels besteht die Erkenntnis Gottes in der Praxis der Gerechtigkeit, konkret dem Dienst an den Armen, Witwen und Waisen. Mehr noch: Gott kann nach Jesaja die Gebete der Menschen nicht mehr hören, die religiösen Feste nicht mehr ertragen, weil ihre Hände voll Blut sind. Auch die Philosophie der Befreiung verschanzt sich nicht in einem Elfenbeinturm, sondern lässt sich auf die geschichtlichen Kämpfe ein und reflektiert die sozialen Konflikte im Licht einer Ethik, die von der Sozialkritik der Propheten inspiriert ist.
„Traditionalisten wollen eine reflexive Entwicklung des Christentums verhindern.“
Hans Schelkshorn
Vernünftiger Glaube
Mit einer Reihe von sechs Vorträgen fragt die „Akademie am Dom“ nach der Zukunft des Christentums in Europa und darüber hinaus. Sie halten dabei drei der sechs Vorträge und eröffnen die Reihe zum Thema „Vernünftiger Glaube jenseits von Traditionalismus und Spiritualismus“. Was verstehen Sie unter Traditionalismus?
In der gegenwärtigen Krise der katholischen Kirche, diese Krise betrifft aber letztlich alle Konfessionen, zeigt sich gerade in den letzten Jahrzehnten in zugespitzter Form ein Konflikt mit, wie ich sie nenne, Traditionalisten, die eine bestimmte historische Gestalt des Christentums mit aller Vehemenz bewahren möchten und so eine reflexive Weiterentwicklung des Christentums verhindern. Dies führt aus philosophischer Sicht in mehrfacher Hinsicht in eine Sackgasse. Um ein prominentes Beispiel zu nennen: Thomas von Aquin (1225–1274), der im 19. Jahrhundert durch den Papst zum verbindlichen Kirchenlehrer erhoben wurde, war in seiner Zeit ohne Zweifel ein Neuerer, der mit Albertus Magnus den Aristotelismus rezipierte und auf diese Weise die gesamte Theologie reformulierte. Die Philosophie des Aristoteles war im 13. Jahrhundert – übrigens vermittelt durch die damalige islamische Gelehrtenwelt – der Standard der Wissenschaft, dem sich das Christentum (dies hatte Thomas erkannt) vorbehaltlos stellen muss. Dies bedeutet nicht, wie Traditionalisten stets einwenden, sich dem Zeitgeist blind zu unterwerfen. Auch Thomas nahm gegenüber Aristoteles bedeutende Korrekturen vor. Das heißt: Das Christentum muss sich in jeder Zeit den geistigen, konkret philosophischen und wissenschaftlichen Herausforderungen stellen. Diese Aufgabe wird heute durch einen gewissen Traditionalismus blockiert.
Was macht dann den, wie Sie ihn nennen, „Spiritualismus“ aus? Was sind „Spiritualisten“?
Das sind Bewegungen, die erst in der jüngeren Zeit in der katholischen Kirche mächtig geworden sind und heute in manchen Diözesen auch von bischöflicher Seite stark gefördert werden. Ihre Wurzeln liegen allerdings eher im protestantischen Bereich. Hier geht es um eine Spiritualität, die eine unmittelbare Beziehung des Einzelnen zu Gott beansprucht. Manche „Erweckte“ berufen sich sogar für Entscheidungen im alltäglichen Leben auf ein persönliches göttliches Wort. Hier wird für eine religiöse Erfahrung eine Unmittelbarkeit in Anspruch genommen, die aus philosophischer Sicht höchst problematisch ist. Denn das Wort Gottes ist für Christen zuallererst in der Bibel zugänglich, die stets der Auslegung bedarf. Was, wie jeder weiß, der in die Bibel schon einmal zu lesen begonnen hat, keine leichte Sache ist. Die Mühe der Auslegung wird jedoch von Spiritualisten durch die Berufung auf eine unmittelbare persönliche Offenbarung umgangen. Kierkegaard, der Begründer der christlichen Existenzphilosophie, hat dies als Anmaßung scharf kritisiert. Daher ist sowohl mit Traditionalisten als auch mit Spiritualisten ein Dialog über die Zukunft des Christentums schwer möglich, weil sie sich einem kritischen Dialog über unterschiedliche Deutungen des christlichen Glaubens immer wieder verweigern. Gerade in Europa hat jedoch das Christentum meiner Meinung nach nur dann eine Zukunft, wenn es sich den kritischen Fragen und Herausforderungen der jeweiligen Zeit in aller Radikalität stellt. Die traditionalistischen oder spiritualistischen Strategien der Abschottung widersprechen jedoch der jahrtausendealten Tradition gerade der katholischen Kirche, die sich immer wieder neu auf die Philosophien ihrer Zeit eingelassen hat. Daher ist es auch kein Zufall, dass es an einer Katholischen Fakultät bis heute ein eigenes philosophisches Institut gibt.
Zwischen Glaube und Vernunft: Die Krise des Christentums
Hat also das Christentum in Europa eine Zukunft?
Diskussionen über die Zukunft des Christentums kreisen, wie die Beratungen im Rahmen der Weltsynode zeigen, oft um organisatorische Fragen der Kirchenämter, der Beteiligung der Laien usw. oder um moralische Fragen, vor allem der Sexualmoral. Diese Fragen sind ohne Zweifel wichtig, viele Reformen sind mehr als überfällig. Doch die Krise des Christentums reicht viel tiefer. Denn viele Christen schleppen, wie ich selbst während vieler Jahre im pfarrlichen Bibelkreis erlebt habe, fundamentale Fragen mit sich herum: Was heißt Menschwerdung Gottes oder Sohn Gottes oder was meint Sühnetod Jesu? Neben der Versöhnung von Glaube und Vernunft hängt die Zukunft des Christentums in Europa davon ab, dass es sich radikal auf das prophetische Erbe zurückbesinnt. Diese Dimension wird auch in den neutestamentlichen Texten zuweilen mit einer geradezu atemberaubenden Radikalität zur Sprache gebracht. Denken Sie an die Schilderung des Endgerichts im Matthäusevangelium (Kapitel 25), wo die Menschen nur danach gefragt werden, was sie den Hungernden, Dürstenden und Nackten getan haben. Von kultischen Pflichten oder gar Dogmen ist hier keine Rede. Darin ist erneut der Geist der Propheten spürbar. Auch säkulare Bürgerinnen und Bürger, selbst hartgesottene Atheisten und Atheistinnen nehmen – dies sollte uns zu denken geben – den Dienst an den Armen unmittelbar als christliches Zeugnis wahr.
„Viele Christen fragen: Was heißt Menschwerdung Gottes, was Sühnetod Jesu?“
Hans Schelkshorn
Vernunft und Glauben
Heuer vor 750 Jahren starb der berühmte Dominikaner-Theologe Thomas von Aquin. Was ist die bleibende Bedeutung dieses wohl größten Theologen und Philosophen der abendländischen Christenheit?
Thomas von Aquin hat sich, ich habe es schon gesagt, auf den Aristotelismus eingelassen. Thomas von Aquin hat damit der Vernunft innerhalb des Christentums, im Übrigen auch in Fragen der Moral, eine für die damalige Zeit beachtliche Autonomie zugesprochen. Kurz: Thomas hat die Kompetenz menschlicher Vernunft im christlichen Denken enorm gestärkt. Darin ist Thomas auch für die gegenwärtige Theologie ein Vorbild. Es würde gegen den Geist des Thomas von Aquin sein, wenn wir heute seine eigene geschichtliche Leistung gleichsam einfrieren, traditionalistisch verabsolutieren und diese nur mehr gewissermaßen wie ein Traditionsgut weiterreichen. Das wäre gegen den Geist des Thomas von Aquin. Dazu war er viel zu sehr Philosoph.
Thomas von Aquin:
Der große Dominikaner-Theologe und -Philosoph hat die Kompetenz menschlicher Vernunft im christlichen Denken sehr gestärkt (Porträt von Sandro Botticelli, 1481–82).
Termintipp: Universitätsprofessor DDr. Hans Schelkshorn spricht am 20. November
DDr. Hans Schelkshorn spricht am 20. November bei den „Theologischen Kursen“ von 16:00 bis 17:30 Uhr zum Thema „Vernünftiger Glaube. Jenseits von Traditionalismus und Spiritualismus“.
▶ theologischekurse.at
Und am 29. November spricht DDr. Schelkshorn bei der KAVÖ-Herbsttagung zum Thema Demokratie: Von 14:30 Uhr bis 19:00 Uhr im im Kardinal König Haus in Wien. Mehr Infos hier.
▶ Zur Anmeldung
Zum Nachhören: Hans Schelkshorn
Mehr vom Wiener Religionsphilosophen Hans Schelkshorn hören Sie im Podcast in der Reihe „Perspektiven“: ▶ radioklassik.at