Otto weinte noch mit 80 Jahren

Die Kindertransporte 1938/39
Ausgabe Nr. 2
  • History
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Aus der Schule geflogen, weil sie Jüdin war: Die elfjährige Stephane durfte ihre Handpuppe mit auf ihre Reise in die Sicherheit nach England nehmen. Ihre Großeltern fuhren in Güterwaggons in der entgegengesetzten Richtung in den Tod im Konzentrationslager Treblinka.
Aus der Schule geflogen, weil sie Jüdin war: Die elfjährige Stephane durfte ihre Handpuppe mit auf ihre Reise in die Sicherheit nach England nehmen. Ihre Großeltern fuhren in Güterwaggons in der entgegengesetzten Richtung in den Tod im Konzentrationslager Treblinka. ©Stephane Kester

Milli Segal hat ein Lebensprojekt: Als gläubige Jüdin will sie nicht, dass die Erinnerung an die Opfer der Shoa verloren geht. Seit 2014 begleitet sie die Wanderausstellung „Für das Kind“ und erzählt über das Schicksal verfolgter jüdischer Mädchen und Burschen, die in den Jahren 1938–39 ihre Heimat verlassen haben in eine unsichere Zukunft, aber in Richtung Sicherheit für ihr Überleben.

Auf dem belebten Wiener Westbahnhof sitzt ein Bub in kurzen Hosen ruhig auf einem Koffer. Die Skulptur von Flor Kent trägt den Titel „Für das Kind“. Modell war Sam Morris, dessen Urgroßmutter Sara zu den 10.000 geretteten jüdischen Mädchen und Buben der Kindertransporte nach England gehörte. Hier am Westbahnhof spielten sich herzzerreißende Szenen ab, als Familien – oft für immer – getrennt wurden. Milli Segal trägt ruhig vor, man merkt ihre lange Routine in der Vermittlung. Sie fragt nach, ob die historischen Zusammenhänge bekannt sind – das sind sie übrigens immer weniger oder gar nicht, denn die Zeitgeschichte verblasst mit dem Tod der letzten Überlebenden. 

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Erinnerung an die Kindertransporte

Zurück in die Ausstellung „Für das Kind“ und in das Jahr 1938: Nach der Pogromnacht vom 10. November wurde der jüdischen Bevölkerung unmissverständlich klargemacht, dass sie in der Nazi-Diktatur nicht erwünscht ist. 
 

„Ich spiele nicht mehr mit dir, du Saujude“

Die energische Gertrude Wijsmuller-Meyer, liebevoll „Tante Truus“ genannt, erkennt, dass man mit dem NS-Regime gegen Geld Leben retten kann. So initiiert sie den ersten Kindertransport der verfolgten jüdischen Bevölkerung. Am 10. Dezember rollt der erste Zug in Richtung Holland, von dort über den Kanal ins sichere England. Hier finden die Kinder im Alter bis zu 17 Jahren Aufnahme bei Pflegefamilien, das jüngste ist gerade einmal drei Monate alt. Einer von ihnen ist der zehnjährige Otto. Bis zum Einmarsch am 13. März 1938 spielt der Bub jeden Tag in den Straßen von Favoriten. Am Tag danach bricht seine kleine heile Welt zusammen. „Ich spiele nicht mehr mit dir, du Saujude“, sagt sein bester Freund. Noch mit 80 Jahren weinte Otto, wenn er sich an diese Szene erinnerte. Seine Eltern schicken ihn mit dem Kindertransport nach England, er überlebt als einziger aus seiner Familie.
 

Kindertransporte: Ein Koffer und ein Spielzeug

Die Kinder verstehen manchmal gar nicht, was passiert, glauben, dass sie aus ihren Familien ausgestoßen werden. Zeit für lange Erklärungen gibt es nicht. Was sie auf ihre Reise ins Unbekannte mitnehmen dürfen, ist genau geregelt: jedes Kind einen Koffer, ein Handgepäckstück und zehn Reichsmark, ein Spielzeug, keinen Schmuck. Fotos der Listen und der Koffer und ihrer Inhalte erwecken die Lebenswelt der kleinen Flüchtlinge wider Willen. Da ist die Handpuppe und säuberlich zusammengelegte Kleidung, der Klassiker „Heidi“. Der Kleiderhaken von Pauline gibt der Ausstellung den Titel. Die Eltern hatten „Für das Kind“ draufgeschrieben. Frau Segal erklärt, dass die Kinder ihre besten Sachen mitbekamen für ihr neues Leben in einer fremden Welt. Das Zusammenspiel der Beteiligten für diese Rettungsaktion war einzigartig.

Milli Segal betont die Hilfsbereitschaft. Juden, Quäker und Christen vieler Glaubensbekenntnisse haben gemeinsam an einem Strang gezogen. Ein Name sei herausgegriffen: Nicholas Winton. Im Film „One Life“ wurde 2023 seine Geschichte erzählt. Er rettete 669 Kinder aus der Tschechoslowakei. Oscarschauspieler Anthony Hopkins spielt den 70 Jahre alten Winton, der sich selbst gar nicht als Held sah, sondern sich vielmehr Vorwürfe machte, dass er nicht mehr Kinder gerettet hatte. In der Tat endet die bis heute nicht besonders bekannte Rettungsaktion abrupt: Der letzte Zug fährt am 22. August 1939 ab, am 1. September beginnt der Flächenbrand des Zweiten Weltkriegs. 

Termintipp: FÜR DAS KIND – Museum zur Erinnerung.

FÜR DAS KIND – Museum zur Erinnerung. Der Kindertransport zur Rettung jüdischer Kinder nach Großbritannien 1938/39.
  
Die Ausstellung ist von März bis Juni 2025 in der Zentrale des Österreichischen Gewerkschaftsbundes zu sehen. Wehlistraße/Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien Führungen für Schulklassen nach Anmeldung: 
info@millisegal.at und ▶ millisegal.at

Autor:
  • Sophie Lauringer
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