Nur die Ochsen büffeln
Liebe Kinder, da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe sortiert, zum ersten Mal auf diesen harten Bänken, und hoffentlich liegt es nur an der Jahreszeit, wenn ihr mich an braune und blonde, zum Dörren aufgefädelte Steinpilze erinnert. Statt an Glückspilze, wie sich’s eigentlich gehörte. Manche von euch rutschen unruhig hin und her, als säßen sie auf Herdplatten. Andre hocken wie angeleimt auf ihren Plätzen …“
So beginnt ein berühmter Text. Leider nicht von mir, sondern von Erich Kästner. Seine „Ansprache zum Schulbeginn“ ist fast 100 Jahre alt und doch in manchen Teilen so treffend wie am ersten (Schul)Tag. Treffend natürlich, weil mit diesem Wochenende – endlich!, werden viele Eltern sagen – die Sommerferien in ganz Österreich zu Ende gehen. Treffend aber auch, weil Kästner den Kindern damals wie heute aktuelle Ratschläge in die Hefte diktierte. Wer mag den Kindern angesichts vollkommen durchgetakteter Schultage nicht zurufen: „Lasst euch die Kindheit nicht austreiben!“ Denn nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch. Und auch der folgende Kästner-Rat dürfte den bildungsfernen Bildungspolitikern ein Dorn im Auge sein: „Seid nicht zu fleißig! Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln.“
Ist das nicht anachronistisch-romantisches Gewäsch? Schule ist doch kein professionell betreuter Spielplatz, sondern soll Kompetenzen für den Klassenkampf einimpfen! Oder etwa nicht? Tatsächlich hätte ein Fach wie der Religionsunterricht die Chance, solche Fragen zu thematisieren. Zu fragen, auf welchem Weg wir unsere Welpen eigentlich sehen wollen. Mit Kästner: „Vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation?“ Ist das der Weg? Noch stehen die Chancen gut, da immer noch drei Viertel aller Schüler eines Jahrgangs den Religionsunterricht besuchen. Noch. Denn mit einem weiteren Ausbau des Ethikunterrichts als alternatives Pflichtfach wird deren Anteil sicher sinken. Wobei böse Zungen behaupten, der Religionsunterricht werde wie Phönix aus der Asche steigen, da unter Schulenden rasch die (rhetorische) Frage kursieren wird: Für Ethik büffeln oder in Reli Film schauen …?
Also, liebe Eltern, so groß eure Freude über die Rückkehr der Brut in die Tagesverwahranstalten auch sein mag: Gönnt ihnen das Spiel, die Albernheit, Phasen der Langeweile und des Müßiggangs, des Leerlaufs und Auslaufs. Und nicht jeder Dreier in einer Arbeit muss das Ende einer verheißungsvollen Karriere bedeuten. Und um mit Kästner zu enden: „Wenn Sie etwas nicht verstanden haben sollten, fragen Sie Ihre Kinder!“