Meine Zeit gestalten
Neustart! Wie neu beginnen geht - Teil 3Gestern habe ich mit meiner Tochter gespielt. Ich weiß, ich weiß: Das ist nichts Besonderes. Besonders war nur das Drumherum. Denn wir spielten montags. Um neun. Wir spielten bis eins – und dann weiter, nach den Spaghetti, bis Opi sie holte.
Mein Kind sollte montags eigentlich im Kindergarten sein. Gestern allerdings hatte der wieder einmal zu. Corona, Sie wissen schon. Uns hat es schon viermal betroffen, einmal fünf, einmal zwölf, noch zweimal fünf Tage lang. Dazwischen hat ab und zu, fast als Zitat, der normale Rhythmus vorbeigeschaut.
Weitwinkel
Beim ersten Ausfall habe ich sehr schlecht geschlafen. Stress hat mich nachts besucht – und auch tagsüber meine Laune getrübt. „Mama, hast du nicht zugehört?“, fragte Erika oft. Auch jetzt kommen die Ängste und Sorgen immer wieder vorbei. Nur gestern, da verschonten sie mich. Ich hatte mir sowieso Freizeit verschrieben, wollte einkaufen gehen und dann zum Friseur. Playmobil, Verstecken und Lego waren Alternativen, die mir auch gut gefielen. Was mir in letzter Zeit hilft, ist die Weitwinkelperspektive. Ich denke an später, in zehn, zwanzig Jahren. Ich stelle mir vor, wie ich dann sagen werde: „Wenigstens haben wir uns viel Zeit zum Spielen genommen.“ Und wie meine Tochter nickt und frohe Erinnerungen hat an die seltsame Zeit.
Mehr davon
Gestern, als ich am Teppich saß und ein Tierheim aus Lego baute, war ich wirklich froh über diese gegebene Zeit. Und stolz war ich auch, auf mich. Weil ich sie nutzte. Denn ich kenne ja auch das Bereuen. „Warum habe ich nicht viel mehr gespielt?“, habe ich so oft geweint. „Hast du doch eh“, sagten die, die mich als Mama kannten und wussten, dass ich doch eine von den Verspielten war. Aber trotzdem: Es hätte mehr sein können. Lustiger, übermütiger, noch mehr bei der Sache. Ein Text fällt mir ein, der im Wartezimmer meiner Psychotherapeutin über dem Büchertisch hing. Er ist von Jorge Luis Borges und heißt „Wenn ich noch einmal leben könnte“. Da geht es um Fehler und Muße, um Verrücktheit und Spiel. Darum, sich das alles zu erlauben. Gestern also habe ich es geschafft. Und morgen? Na ja: Da warten die Mails, die liegengeblieben sind. Da ist dann erst einmal keine Zeit mehr.
Kürzer ist leichter
Es ist nämlich so: Das Gewicht der Zeit ist ein anderes, wenn die Zeit knapp bemessen ist. Zeit wird leichter, wenn es nur wenig von ihr gibt. Das merke ich nicht nur beim Spiel, auch in der Arbeit. Einmal, da habe ich nach einem Vortrag bei einem Kongress erfahren, dass ich gleich nach der Pause ein Seminar halten sollte: zwei Stunden „Schreiben für Manager“. Ich hatte diesen Auftrag voll übersehen und nur den Vortrag vorbereitet! In zehn Minuten musste die Planung nun fertig sein. Erstaunlich genug: Es fiel mir leicht!
Fünf Minuten
Zu Hause, wenn es ans Aufräumen geht, spiele ich oft „Fünf Minuten“. Ich stelle mir einen Wecker und sage mir: Nur so lange putzen, bis er klingelt. Es ist erstaunlich, was in fünf Minuten alles geht. Und wie groß die Lust ist, den Wecker danach gleich noch einmal zu stellen. Ich bin besser im Sprinten. Auf 60 Metern, da habe ich immer alles gegeben und sogar manchmal gesiegt. Schon der 400-Meter-Lauf war mir zu viel, da hat die Krafteinteilung einfach nicht funktioniert.
Marathon oder nicht
Lieber Herr Borges, ich frage mich, wie viel Zeit noch vor Ihnen lag, als Sie Ihren Text geschrieben haben, der jahrelang jede Woche an meiner Seele zupfte. Ich glaube, die Etappe war kurz. Das Leben meiner Kinder, im Rückblick gesehen: eine winzige Spanne Zeit. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir diese Zeit anders eingeteilt, nicht als Marathon, bei dem ich Kraft sparen muss – und Geld für die Zukunft verdienen.
Noch viele Jahre
Aber ich wusste es halt nicht vorher. Und das Leben, wenn es ohne dramatische Wendung verläuft, ist ja doch im Allgemeinen eher als Marathon angelegt. Ich darf davon ausgehen, dass meine Tochter und ich noch viele Jahre vor uns haben, viele Sams- und Sonntage zum innigen Spiel. Und Ferien, immer wieder. Dazwischen auch Ausnahmetage wie gestern, an denen fünfe gerade sein dürfen und der Posteingang liegenbleibt.
Überblickbar
Was hat das mit Neustart zu tun? Hier mein Gedanke: Wir lieben die Idee, neu beginnen zu können, weil sie uns hilft, das Leben, das sich so zeit- und fast endlos vor uns erstreckt, in Etappen zu teilen. Neu anfangen können, das bedeutet auch: etwas beenden zu können, eine Etappe, eine Phase, ein Projekt. Und andersherum: Das Wissen, dass etwas zu Ende gehen wird, ermöglicht es uns, die Energie einzuteilen – und sie ab und an zu versprühen. Noch einmal verstecken? Ja, mein Schatz, klar! Heute geht alles.
Vielleicht steckt hinter der Idee, einen Neustart zu wagen, ja der Wunsch nach Absehbarkeit dessen, was gerade stattfindet. Dürfte es absehbar sein, könnte man es anders erleben. Ganz anders gestalten.
Gestalten
Nur dann? Vielleicht nicht: Vielleicht geht es auch anders, im Kleinen. Den Trott beenden, die Sorgen stummschalten, etwas Unsinniges, Leichtes, Lustiges tun. So, als ob es der letzte Tag – wovon auch immer – wäre. Nicht radikal. Das passt nicht zum Leben. Sondern milde mit sich und der Zeit, die man eben nicht planen, aber immer gestalten kann.