„Jesus ist nicht harmlos“

Was wollte Jesus wirklich?
Ausgabe Nr. 41
  • Theologie
Autor:
Univ.-Prof. Markus Tiwald: Jesus ist einfach „eine Wucht“. ©Stefan Kronthaler
So viele Jesusbilder wie es weltweit Jesus-Ikonen gibt.
So viele Jesusbilder wie es weltweit Jesus-Ikonen gibt. ©THOMAS COEX/picturedesk.com

Jesus begleitet uns – seit fast 2.000 Jahren. „Es gibt so viele Jesusbilder, wie es Jesus-Ikonen oder Jesusdarstellungen auf der ganzen Welt gibt“, sagt der Wiener Universitätsprofessor Markus Tiwald zum SONNTAG.

Jede Generation seither macht sich immer wieder neu auf die Suche nach dem Mann aus Nazaret. Ob Papst Franziskus, wie der erste Petrusbrief (Kapitel 2, Vers 21) sagt, in der Spur Jesu ist, will Der SONNTAG vom Wiener Neutestamentler Markus Tiwald wissen. „Ja. Interessant bei Franziskus ist, dass er auf die wesentlichen Dinge zurückgehen will. Franziskus bemüht sich, den Blick von der Sexualmoral wegzuwenden, hin auf eine arme, sich erbarmende und mitfühlende Kirche“, betont Tiwald, der am 23. Oktober bei den „Theologischen Kursen“ zum Thema „Was wollte Jesus wirklich?“ sprechen wird. Damit treffe Papst Franziskus „den unmittelbaren Markenkern Jesu, denn auch Jesus hat niemanden ausgegrenzt“. Wenn der Papst gefragt werde, wer alles in der Kirche eingeladen sei, so antworte er auf Spanisch: „Todos, todos, todos“, „Alle, alle, alle sind eingeladen.“ „Alle haben bei Papst Franziskus einen Heimatort in dieser Kirche“, unterstreicht Tiwald: „Und das deckt sich stark mit der Praxis Jesu, der keine Angst hatte vor Berührungen mit Aussätzigen, mit Sündern, mit Huren, mit Zöllnern. Alle berührte er, um sie anzustecken mit der Liebe und mit der Barmherzigkeit Gottes.“

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Was an Jesus fasziniert

Was fasziniert Sie persönlich an Jesus?

Markus Tiwald: Mich fasziniert an Jesus, dass er in der Situation, in der er sich befand, eigentlich chancenlos war, aber trotzdem kreativ neue Chancen begründet hat. Chancenlos dergestalt, dass er in einem Land aufwächst, wo die Römer eine starke Oberherrschaft und Dominanz besitzen, wo es eine sehr starke Kluft zwischen Arm und Reich gibt, zwischen den hellenisierten Städten und den ziemlich abgehängten Landbewohnern, wie etwa im kleinen, rückständigen Nazareth. Und dieser Jesus hat eigentlich keine Chance, aber er macht auf einmal ein Fenster auf, wo andere nur eine glatte Wand sehen. Und dieses Fenster ist der Glaube, dass Gott die Dinge in der Welt ändern kann, dass Gott auf krummen Zeilen gerade schreiben kann, und dass wir Menschen dabei mitgestalten können.

Was kann generell als historisch gelten in Bezug auf Leben und Werk Jesu?

Historisch kann auf jeden Fall gelten, dass Jesus ein Schüler von Johannes dem Täufer gewesen ist. Dieser Täufer muss sehr faszinierend gewesen sein, weil er in kompromissloser Art wie ein alttestamentlicher Prophet auftritt und verkündet: „Jetzt ist das Ende der Zeit gekommen, jetzt macht Gott etwas Neues. Bekehrt euch, ändert euren Lebensweg!“ Das ist für Jesus faszinierend - die Erwartung des Reiches Gottes. Und dann scheint Jesus wohl in der Wüste als Schüler von Johannes dem Täufer eine Gotteserfahrung gehabt zu haben, die sich niederschlägt in seiner Vision vom Satan-Sturz (Lukasevangelium 10,18): „Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen.“ Jesus kommt zur Gewissheit, dass jetzt die Macht des Bösen auf dieser Welt gebrochen ist. Nun ist „Satan“ natürlich für die heutige Leserin, für den heutigen Leser etwas schwer vermittelbar. Aber im damaligen vormodernen Denken führte man alles Leid, alles Elend auf das Wirken des Teufels, des Satans zurück. Es gibt einen sehr schönen Text aus der Zeit Jesu, die „Himmelfahrt Mose“. Dort heißt es: „Jetzt wird Gottes Herrschaft anbrechen, und im Anbruch der Herrschaft Gottes wird der Satan entmachtet werden, und alles Leid wird mit ihm hinweggenommen werden.“ Satan ist Chiffre für das körperliche, seelische und moralische Elend, in dem sich der Mensch befindet. Indem jetzt diese Unheilsmacht gebrochen wird, bricht mit dem Reich Gottes etwas ganz Neues und Heilsstiftendes an.

Jesus als Heiler

Stichwort „Herrschaft Gottes“. Jesus tritt in den Evangelien auch als Heiler auf. Ist er so etwas wie der erste christliche Psychotherapeut?

Dass Jesu heilend wirkte, steht fest. Er erwartet, dass im Reich Gottes die Menschen von aller Last befreit werden, von allem, was sie niederdrückt. Die Hoffnung auf seelisch Heilung finden wir auch in der Psychotherapie. Psychotherapie lehrt allerdings das Annehmen und einen neuen Umgang mit den Problemen. Darüberhinausgehend ist die Hoffnung auf die Gnade Gottes: Dort, wo der Mensch ans Ende seiner Kräfte kommt, dort hilft ihm auch Gott ein kleines Stückchen weiter. Der Gedanke des Glaubens an Gott ist der modernen Psychotherapie nicht fremd. Ich bin auch ausgebildeter Psychotherapeut, geprägt vom Ansatz von Viktor Frankl, der gesagt hat, dass der Mensch auch einen tieferen Glauben an Dinge braucht, die ihn tragen. Dort, wo ich mit meinen eigenen Kräften scheitere, dort gibt es noch etwas Tieferes, was mich trägt und was mich birgt. Und das sind die Hände Gottes. Und somit wird in der modernen Psychotherapie der Glaube mittlerweile nicht mehr als Problem, sondern als eine Ressource gesehen, also nicht als etwas, was den Menschen einschränkt oder einengt, sondern als eine Hoffnungs- und Motivationsgrund, aus dem der Mensch leben kann und der ihm auch ein sinnerfülltes Leben in tragender und stützender Weise ermöglicht.

„Ich denke an den fast unverschämten Optimismus, den Jesus besessen hat.“

Markus Tiwald

Wir meinen leichthin Jesus zu kennen. Kennen wir Jesus?

Das Schöne ist, dass man Jesus immer wieder neu in seinem Glauben erfahren kann. Vereinfacht gesagt: Es gibt so viele Jesusbilder, wie es Jesus-Ikonen oder Jesusdarstellungen auf der ganzen Welt gibt. Und auch für den Wissenschaftler ist dies eine interessante Frage. Ich bin von meiner Profession her Professor für Bibelwissenschaft. Ich bin zugleich Psychotherapeut und ich bin katholischer Priester. Und in allen drei Berufsgruppen habe ich vielleicht einen anderen Zugang zur Religion und vielleicht auch einen anderen Zugang zu Jesus. Ich kann beispielsweise Jesus unter historisch-kritischem Blickwinkel betrachten, indem ich frage: Wer ist diese historische Figur gewesen, die vor 2.000 Jahren gelebt hat? Oder wenn ich frage, aus welchen spirituellen und religiösen Quellen Jesus gelebt hat. Was war seine Motivation, zu den Menschen zu gehen und ihnen dieses Reich Gottes nahezubringen? Mein spirituelles Bild von Jesus hat auch von der historisch-kritischen Forschung profitiert, weil ich durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Jesus immer mehr darauf gekommen bin, wie faszinierend dieser Mensch tatsächlich gewesen ist. Ich denke da an den fast unverschämten Optimismus, den Jesus besessen hat aufgrund seiner religiösen Erfahrung, dass jetzt das Reich Gottes anbricht.

Die Begegnung mit Jesus ermöglichen

Ermöglicht die Kirche Begegnungen mit Jesus oder blockiert und verhindert sie diese manchmal?

Wahrscheinlich beides zugleich. Max Weber, der große Soziologe, erinnerte an die drei Stufen einer Institutionswerdung. Die erste Stufe sind die charismatischen Anfänge am Beginn. Die zweite Stufe meint dann die Institutionalisierung des Charismas, das lebendige Charisma Jesu ist dann irgendwann zu einer kirchlichen Institution geworden. Das ist noch nicht problematisch, denn die Institutionswerdung ist nichts Negatives: Das lebendige Charisma würde verdunsten, wenn es nicht bewahrende Strukturen gäbe. Problematisch ist die dritte Stufe, nämlich die Frage: Ermöglicht eine Institution dem Charisma, sich frei zu bewegen? Oder engt es das Charisma ein? Ich finde es bei Papst Franziskus als sehr schön, dass er diesen Weg zurück zur Lebendigkeit des Anfangs gehen möchte. Manches mag beim Papst vielleicht ein bisschen hemdsärmelig oder unkonventionell erscheinen, aber in einer Zeit, in der Politikerinnen und Politiker nur strikt nach ihrem Skript reden, bin ich sehr froh darüber, dass es einen gibt, der manches Mal so frisch von der Leber weg redet. Damit gewinnt er auch ein kleines Stück dieser jesuanischen Ursprünglichkeit der Kirche zurück.

Stichwort Papst Franziskus: Ist er, wie der erste Petrusbrief sagt, in der Spur Jesu?

Ja. Interessant bei Franziskus ist, dass er auf die wesentlichen Dinge zurückgehen will. Franziskus bemüht sich, den Blick von der Sexualmoral wegzuwenden, hin auf eine arme, sich erbarmende und mitfühlende Kirche. Und damit trifft er den unmittelbaren Markenkern Jesu. Denn auch Jesus hat niemanden ausgegrenzt. Wenn der Papst gefragt wird, wer alles in der Kirche eingeladen sei, so antwortet er auf Spanisch: „Todos, todos, todos“, „alle, alle, alle sind eingeladen.“ Alle haben bei Papst Franziskus einen Heimatort in dieser Kirche. Und das deckt sich stark mit der Praxis Jesu, der keine Angst hatte vor Berührungen mit Aussätzigen, mit Sündern, mit Huren, mit Zöllnern. Alle berührte er, um sie anzustecken mit der Liebe und mit der Barmherzigkeit Gottes.

„Jesus ruft nicht zu einer Revolution der Waffen, sondern der Werte auf.“

Markus Tiwald

Jesus ruft zur Revolution auf

Warum ist eigentlich Jesus überhaupt nicht harmlos?

Jesus ist nicht harmlos, weil er zu einer Änderung aufruft. Man könnte sagen: „Vorsicht vor der Bibel, Vorsicht! Das Lesen dieses Werkes könnte zu einer Änderung der Lebenseinstellung führen!“ Jesus ruft nicht zu einer Revolution der Waffen auf, sondern einer Revolution der Werte. Er möchte keinen Umsturz mit Gewalt herbeiführen. Überall dort, wo Religion machtpolitisch an den Hebeln sitzt, wird es problematisch und gefährlich. Aber die von Jesus vermittelten neuen Werte führen dann dazu, dass Menschen anders handeln. Dies führt dann auch zu einer Veränderung der politischen Strukturen.

Welche konkreten Werte sind damit gemeint?

Zunächst einmal die Geschwisterlichkeit, also dass man neu auf den Menschen zugeht. Die Werte des Integrierens aller Menschen, auch derjenigen, die am Rand stehen. Bei Jesus ist die Option für die Armen besonders stark ausgeprägt. Und zwar Armut nicht nur im finanziellen Sinne, sondern auch Armut im Vorzeichen der Ausgrenzung. Und das deckt sich wieder mit Papst Franziskus, der sagt: Wir müssen an die Peripherie, an die Ränder gehen, wir müssen die Ärmsten der Armen auch in die Kirche hineinbitten, denn das ist auch unsere Aufgabe - im Dienste einer gerechteren Welt. Oder wie Papst Johannes Paul II. einmal gesagt hat: Wir müssen eine Zivilisation der Liebe schaffen.

Wie verändert die Tatsache, dass Jesus Jude war, meinen Glauben als Christ?

Es gibt keinen christlichen Glauben ohne den Glauben an Jesus als Juden. Wenn wir die jüdischen Wurzeln Jesu abschneiden - und oftmals haben wir das ja im Laufe der Kirchengeschichte unternommen -, dann haben wir einen verfälschten Jesus. Meine Forschungen reichen auch sehr stark in die Judaistik hinein, nämlich wie das Frühjudentum der damaligen Zeit, in dem und aus dem heraus Jesus gelebt hat. In diesen Forschungen wird mir immer mehr bewusst, dass das beginnende Christentum und das spätere rabbinische Judentum sich mehr oder weniger parallel aus dieser gemeinsamen Wurzel des Frühjudentums heraus entwickelt haben. Wenn wir diese Wurzeln kappen, dann hätten wir den historischen jüdischen Jesus verloren. Es wäre auch theologisch tragisch, weil der Haftpunkt unserer eigenen Christologie bereits im Judentum grundgelegt worden ist.

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Zum Nachhören: Markus Tiwald

Mehr vom Wiener Neutestamentler Markus Tiwald hören Sie im Podcast zur Reihe „Perspektiven“: ▶ radioklassik.at

Markus Tiwald

Zur Person

Univ.-Prof. Dr. Markus Tiwald lehrt Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Schlagwörter
Autor:
  • Stefan Kronthaler
  • Stefan Hauser
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