Israel: Ein Land im Schock
Kein Ende im Nahost-KonfliktTage nach Beginn der massiven Angriffe der Hamas aus der Luft, zu Land und zu Wasser stellt sich vor allem eine Frage: Wie konnte das ohne Vorwarnung passieren? Von einem Datum, das man in Israel nicht vergessen werde, ist die Rede. Erinnerungen an den Jom-Kippur-Krieg vor exakt 50 Jahren, als arabische Armeen Israel mit einem Angriff überraschten, kehren zurück. Andere sprechen von einem 11. September Israels. Bei allen herrschen Schock und Entsetzen.
Wie vor 50 Jahren traf es das Land an einem Schabbat, diesmal dem Fest der Thorafreude, das den Reigen der hohen Feiertage im jüdischen Monat Tischri abschließt. Statt mit Thorarollen auf den Straßen zu tanzen, suchten die Menschen Schutz, da landesweit seit den frühen Morgenstunden des 7. Oktober Raketenalarme ertönten.
Sofortiger Waffenstillstand
Mit einem Appell an die internationale Gemeinschaft, angesichts der jüngsten Terrorakte in Israel „sofort alles zu unternehmen, um einen Waffenstillstand zu ermöglichen und unverzüglich mit der Überwindung der Konfliktursachen zu beginnen“, hat sich die katholische Friedensbewegung Pax Christi Österreich zu Wort gemeldet. Die Hamas müsse dazu alle terroristischen Akte einstellen – die Regierung in Israel sei ebenfalls gefordert, ihre „berechtigte Selbstverteidigung so auszuüben, dass dadurch keine weitere Eskalation der Gewalt befeuert wird“, sagt Pax-Christi-Präsident Wolfgang Palaver.
Unhaltbare Lebensbedingungen in Gaza
Besonders weist Palaver auf die Situation im Gazastreifen hin: „So entschieden wir den terroristischen Angriff der Hamas auf Menschen in Israel ablehnen, weil das Töten von Menschen oder deren Geiselnahme nur in eine tödliche Gewaltspirale treibt, so sehr darf auch nicht übersehen werden, dass der schon lange andauernde Konflikt in Israel/Palästina und die unhaltbaren Lebensbedingungen im Gazastreifen den aktuellen Gewaltausbruch mitverursacht haben.“ Pax Christi schließt sich dem Wort von Papst Franziskus beim Angelusgebet am vergangenen Sonntag an: „Terrorismus und Krieg führen zu keiner Lösung, sondern nur zu Tod und Leid so vieler unschuldiger Menschen. Krieg ist eine Niederlage! Jeder Krieg ist eine Niederlage!“
Jüngere Geschichte des Konflikts
- 1987: Am 8. Dezember 1987 stieß ein israelischer Lastwagen im Gazastreifen mit zwei palästinensischen Fahrzeugen zusammen. Vier Palästinenser starben dabei. Das Ereignis vom Dezember löste die Erste Intifada (arabisch für Erhebung, Abschüttelung) aus. Während dieses beginnenden Aufstandes der Palästinenser wurde die radikale Hamas in Gaza gegründet.
- 1993: Am 13. September 1993 unterzeichneten der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin und PLO-Chef Yassir Arafat ein Grundsatzabkommen in Washington. Dieses sollte die Grundlage für die Einrichtung einer palästinensischen Selbstverwaltung darstellen.
- 2000: Der 28. September 2000 gilt als Tag, an dem die Zweite Intifada ausbrach. Ariel Scharon, damals Israels Oppositionsführer, betrat während des Wahlkampfes in Begleitung von israelischen Grenzpolizisten den Tempelberg.
- 2003: Die israelische Regierung unter Ariel Scharon reagierte auf die anhaltenden Terroranschläge. Eine etwa 750 Kilometer lange Sperranlage um das Westjordanland sollte potenzielle Attentäter aufhalten.
- 2005: Im August 2005 begann der von der israelischen Regierung angeordnete Rückzug der jüdischen Siedler aus dem Gazastreifen.
- 2007: Es kam zu einem blutigen Machtkampf zwischen Fatah und Hamas in den palästinensischen Autonomiegebieten und einer faktischen Aufteilung: Die Hamas kontrollierte fortan den Gazastreifen, während das Westjordanland in den Händen der Fatah blieb.
- Mai 2023: Israel flog Luftangriffe gegen die militante Palästinenserorganisation Islamischer Dschihad als Antwort auf Raketenangriffe aus dem Gazastreifen auf das israelische Grenzgebiet in den Wochen zuvor.
- Juli 2023: Das Flüchtlingslager Dschenin im Westjordanland war in den ersten Julitagen Ziel einer massiven Anti-Terror-Operation der israelischen Armee.
- Oktober 2023: Am frühen Morgen des 7. Oktober startete die radikalislamische Hamas vom Gazastreifen aus einen Großangriff auf Israel. Die radikale Schiiten-Miliz Hisbollah feuerte aus Solidarität Geschosse aus dem Libanon. Israel reagierte mit Luft- und Artillerieangriffen auf den Gazastreifen.
Kein Anzeichen eines baldigen Endes
Pater Gabriel Romanelli, Pfarrer der kleinen katholischen Gemeinschaft mit knapp über 100 Mitgliedern in Gaza, berichtet von der großen Angst der im Gazastreifen eingeschlossenen Bevölkerung vor den Gegenschlägen durch die israelische Armee. „Niemand weiß, wo das alles enden wird, und leider gibt es keine Anzeichen dafür, dass es bald zu Ende sein wird“, zeigt er sich zutiefst bestürzt über die neueste Eskalation der Gewalt.
In der Bevölkerung des von der Hamas beherrschten Gazastreifens sei die Angst und Ungewissheit, was die nächsten Tage und Wochen bringen werden, groß. „Früher haben schon viel weniger ernste Ausgangslagen als die jetzige zu sehr langen Kriegen geführt“, so der argentinische Priester. Ihm gehe jetzt der Appell von Papst Pius XII. vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs durch den Kopf: „Mit dem Frieden ist nichts verloren, mit dem Krieg kann alles verloren sein“.
Rechte aller Seiten berücksichtigen
Eine langfristige Lösung des Konflikts in Israel ist laut Ansicht des österreichischen Militärbischofs Werner Freistetter nur dann realistisch, wenn die Rechte aller Seiten zur Geltung gebracht werden. Es gelte „sowohl das Existenzrecht des Staates Israel als auch der Palästinenser“ anzuerkennen, gibt der Bischof zu bedenken. Israel stehe nun unter erheblichem Druck, vor allem die Geiseln, die sich in der Hand der Hamas befinden, zu befreien. Für die Hamas gehe es darum, Israel in den Konflikt im Gazastreifen hineinzuziehen. Ein Erklärungsansatz sei auch, dass die Terrororganisation die Friedensbemühungen, die in den vergangenen Jahren zwischen den Ländern in der Region und Israel durchaus intensiver geworden seien, zu torpedieren versuche.
Religionen als Friedensstifter
Eine Friedenslösung setze auch voraus, dass die Erkenntnis Raum greift, dass eine solche im Interesse aller liegt, so Freistetter. „Und das Land Israel ist immerhin drei Religionen heilig. Ich denke, dass diese drei Religionen ein großes Potenzial auch im Sinne des Friedens haben. Eine Rolle dieser drei Religionen in der Unterstützung und Begleitung eines solchen Friedensprozesses wäre dringend erforderlich und wäre ein schönes Zeichen einer Gemeinsamkeit dieser drei abrahamitischen Religionen.“
Totale Eskalation: Das 9/11 Israels
Israel erlebe gerade eine nationale Katastrophe, die an den Terror von „Nine-Eleven“ im Jahr 2001 erinnere, beklagt der Rektor des Österreichischen Pilger-Hospizes in Jerusalem, Markus Bugnyar. „Noch nie in der Geschichte des Landes hat es eine solche Eskalation gegeben“, sagt der selbst seit 20 Jahren in Israel tätige Priester. Wer diesen Angriff für eine Überraschung hält, übersieht laut Bugnyar, dass es seit Monaten massive Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern im Westjordanland gab. „Für uns hier vor Ort war es nur eine Frage der Zeit. Dass es passiert, war klar, das Wann war unklar. Bis eben zu diesem Samstag, 7. Oktober.“
Wenn die Regierung Netanyahu nun einen „gnadenlosen Kampf“ ankündige, um die Terrororganisation Hamas handlungsunfähig zu machen, ist nach Meinung Bugnyars unabsehbar, „was das im Detail bedeutet. Niemand weiß jetzt schon, wie andere Gruppen reagieren werden: die Hisbollah im Libanon, Extremisten in Jordanien, die Mullahs im Iran, die Palästinenser in der Westbank und die Araber, die innerhalb Israels leben.“
Zu kurz greife es zu meinen, die Israelis seien aufgrund ihrer Blockade des Gazastreifens selber schuld an den jüngsten Attacken. Es dürfe nicht übersehen werden, „dass täglich Menschen und Güter die Grenze passieren und dass Gaza auch eine gemeinsame Grenze mit seinem muslimischen Bruderland Ägypten hat“. Israel habe sich bereits 2005 aktiv aus dem Gaza-Streifen zurückgezogen, erinnert der Hospiz-Rektor. Seit 2006 regiere hier die Hamas alleine. Anders als im Westjordanland gebe es hier auch weder jüdische Siedlungen noch israelische Checkpoints. „Wozu also dieses ungekannte Maß an Brutalität?“
Markus Bugnyar versucht, die Strategie der Hamas zu erklären: Diese wolle ihren palästinensischen Schwestern und Brüdern in der Westbank signalisieren, dass sie für diese kämpfen und sie sich auf die Hamas verlassen können. Die palästinensische Führung in Ramallah sei dazu nach dieser Lesart nicht imstande. „Wer meint, die Hamas will hier lediglich ihre Partner im Libanon, im Iran und in Jordanien wachrütteln, der übersieht den wirklich tief sitzenden Frust der Palästinenser in der Westbank mit ihrer eigenen handlungsunfähigen und korrupten Elite“, so Bugnyar.
Neben der tödlichen Bedrohung Israels mit einem möglichen Sturz der Regierung Netanyahu geht es nach der Analyse des Priesters somit auch um den Aufruf der Hamas an die eigenen Leute im Westjordanland, Israel gemeinsam zu schwächen. Was sich hier ankündige, sei ein Krieg an mehreren Fronten. Eine Rolle spiele dabei auch „Israel gegen seine Feinde innen und außen; und davon gibt es viele“, wie Bugnyar festhält.