„Ikonen führen in die Nähe Gottes“

Interview
Ausgabe Nr. 2
  • Kunst und Kultur
Warum eine Ikone eigentlich geschrieben und nicht gemalt wird.
Warum eine Ikone eigentlich geschrieben und nicht gemalt wird. ©Benediktinerinnen der Anbetung

2012 hat Schwester Rafaela Kolodziejak mit dem Ikonenmalen, oder Ikonenschreiben, wie es eigentlich korrekterweise heißt, begonnen. Mit dem SONNTAG hat sie darüber gesprochen, was eine Ikone ausmacht, warum sie für das christliche Glaubensleben wichtig ist und wie sie gemalt beziehungsweise geschrieben wird.

Mittlerweile gibt Schwester Rafaela Kolodziejak in ihrem Heimatkloster der Benediktinerinnen der Anbetung im 16. Wiener Gemeindebezirk Ikonenmalkurse und schreibt in ihrer Ikonenwerkstatt auch Auftragswerke.

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Warum sind Ikonen für das christliche Glaubensleben wichtig?

Schwester Rafaela Kolodziejak: Zuallererst: Ikonen haben ihren Ursprung in der Zeit, in der das Christentum noch nicht geteilt war. Das weist auf ihren ökumenischen Aspekt und zugleich auf ihre ökumenische Aufgabe hin. Es gibt Ikonen, die man als „wundertätige“ bezeichnet. Viele Christen, unabhängig von ihrer Konfession, haben durch Ikonenverehrung bestimmte Gnaden und Heilungen erfahren. Ikonen sind einheitsstiftend.

Ein anderes Kriterium hat mit der persönlichen Glaubenserfahrung zu tun: Das Christentum ist eine Beziehungsreligion. Durch die Menschwerdung Christi lässt uns Gott sein Antlitz schauen: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“, heißt es im Johannesevangelium in Kapitel 14, Vers 9. Der Gott der Christen ist Emmanuel – das heißt „Gott-mit-uns“. „Er hat Leidenschaften wie ein Mensch, er freut sich, er sucht, er wartet, er geht entgegen. Er ist nicht die fühllose Geometrie des Weltalls, sondern er hat ein Herz, er steht da als ein Liebender“, hat es Josef Ratzinger einmal formuliert. Es gehört zur menschlichen Natur, sich die Personen, die man liebt, vor Augen zu halten. Viele Menschen haben auf ihrem Schreibtisch oder als Hintergrundbild auf ihrem Smartphone ein Bild eines geliebten Menschen. So wie das Schauen auf das Gesicht eines lieben Menschen einen in Gedanken in seine Nähe führen kann, so führen die heiligen Bilder auf eine natürliche Art und Weise in die Nähe Gottes und erinnern an den ewig Geliebten, der für uns Mensch geworden ist, um uns der Macht des Todes zu entreißen. Apropos: Die größte und die tiefste Angst der Menschheit ist, nach dem deutschen protestantischen Theologen Paul Tillich, die Angst vor dem „Nicht-Sein“, das heißt vor dem Tod, der END-gültig ist. Doch der heilige Paulus verkündet im 15. Kapitel des 1. Briefes an die Korinther: „Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod ... Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden ... Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ Ikonen konfrontieren uns mit der verwandelten Wirklichkeit, mit der Wirklichkeit des Himmels. Sie zeigen uns das Ziel unserer irdischen Pilgerschaft – und begleiten uns zugleich auf diesem Weg.

Die Rolle der Ikonen

Welche Rolle haben Ikonen in der Geschichte des Christentums gespielt und wie hat sich ihre Bedeutung über die Jahrhunderte entwickelt?

Hier ist es wichtig, zumindest kurz das Bilderverbot im Alten Testament anzusprechen. In der Antike wurden Bilder von Hausgöttern verwendet, um einen Gott zu symbolisieren, der Glück bringt oder Unglück abwehrt. Götter zogen mit in den Krieg und sorgten für Siege. Eine magische Statuette zu Hause zu haben, sorgte für Wohlergehen und Frieden. Israels Gott offenbarte seinen Namen als der Seiende und nahm Wohnung, hebräisch Schekhina, in seinem Volk Israel, deshalb konnte man nur Erfahrungen von Israels Gott erzählen: Kein statisches Bild, keine Skulptur drückt sein Wesen aus, denn er ist „der, der da ist“, der Lebendige.  Wenn man die Ikonen unter dem historischen und theologischen Aspekt betrachtet, ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass hier von der Wirklichkeit einer noch nicht geteilten Kirche gesprochen wird. Das Bild, das den Charakter der christlichen Urgemeinde am besten wiedergibt, ist das Bild des Guten Hirten. Jesus wird hier als das klassische Schönheitsideal der griechischen Ästhetik dargestellt. Es ist umso interessanter, da im Bibelgriechisch das Adjektiv „gut“ mit dem Wort „schön“ übersetzt wird. Für einen antiken Griechen ist das aber kein Unterschied, denn im griechischen Verständnis ist das, was gut ist, auch schön und umgekehrt. Das Gute, das Wahre und das Schöne bilden eine untrennbare Einheit. Bei dieser Darstellung des Guten Hirten bedient sich die Kirche des in der Antike schon gut bekannten Bildes, nämlich des Hermes, des Schutzgottes der Hirten, der mit einem Schaf auf seinen Schultern dargestellt wird. Dieses Bild geht auf das 6. Jahrhundert vor Christus zurück. Das heißt, das Christentum übernahm die Form, die in der Antike geläufig war, gab ihr aber eine völlig neue Bedeutung. Es goss sozusagen in die alte Form einen neuen Inhalt. Was für einen Inhalt? Hermes trug das Schaf, um es als Opfergabe den Göttern zu bringen, das heißt, er musste es auch töten. Der Gute Hirt dagegen nimmt das verlorene Schaf auf seine Schulter, um es zu retten, um ihm das Leben in Fülle zu schenken. Das ist eben der Unterschied.

Papst Benedikt XVI. geht von dieser Interpretation aus und fügt eine dogmatische Ergänzung hinzu: Das verlorene Schaf ist die menschliche Natur, die sich in den Dornen der Sünde verstrickte. So war der Mensch nicht imstande, sich selbst aus dieser elenden, aussichtslosen Lage zu befreien. Was macht Gott? Er sendet seinen Sohn, der durch die Menschwerdung die verletzte menschliche Natur auf sich – „auf seine Schulter“ – nimmt, sie durch die eigene Hingabe endgültig befreit und, was die orthodoxe Kirche besonders betont, sie vergöttlicht in Psalm 82: „Ich habe euch gesagt, ihr seid Götter, ihr seid Söhne des Höchsten.“ Im 5. und 6. Jahrhundert kam es zu einem großen Wechsel im Bereich der Kunst-Sprache: In Ravenna, das damals zum byzantinischen Reich gehörte, entwickelt sich die byzantinische Kunst. An die Stelle des Guten Hirten trat der Thronende Christus, der Herrscher über das All – der Pantokrator. Er wirkt mehr streng als gütig. Er ist der König, der gerechte Richter, „mysterium fascinosum et tremendum“ – das Geheimnis, das Furcht und Zittern auslöst. Gott ist also furchterregend, nahe aber auch fern, unzugänglich, unbegreiflich. Hier liegt auch der Ursprung der sogenannten apophatischen Theologie, die besagt, dass Gottes Wesen unerkennbar ist. In der Ikonographie wird das geschildert durch eine dunkle Ellipse, die Christus, der doch die eigentliche Quelle des Lichtes ist, umhüllt. Diese Vision, dieses Gotteskonzept, setzte sich dann in der byzantinischen Kunst endgültig durch.

Ab 720 begann eine der schmerzhaftesten Perioden in der byzantinischen Kunst, der sogenannte Ikonoklasmus, der Bilderstreit. Kaiser Leon III. erließ im Jahr 726 ein Edikt, das die Anbetung von heiligen Bildern verbot – ganz absichtlich verwende ich hier das Wort „Anbetung“, denn es war wie eine Achse, um die sich der ganze Streit drehte. Das Christus-Bild wurde von der Bronze-Tür des Kaiserlichen Palastes entfernt. Somit wurde das Schisma zwischen der östlichen und der westlichen Kirche eingeleitet. 787 unter Kaiserin Irene wurde auf dem 7. Ökumenischen Konzil die Bilderverehrung wieder eingeführt. Dank der ausgezeichneten Theologen, die die Kirche damals schon hatte, gab es bereits die Lehre von der Menschwerdung Gottes und das Dogma von den zwei Naturen Christi. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis, warum Bilderverehrung kein Götzendienst ist. Johannes von Damaskus schrieb, dass auf den heiligen Bildern nicht der göttlichen Schönheit Form und Gestalt gegeben wird, denn diese kann nicht geschildert werden, sondern der Maler stellt die menschliche Gestalt dar. Wenn also der Sohn Gottes Mensch wurde, warum sollte man ihn nicht abbilden? Ein anderer Theologe, Theodor von Studion, formuliert es noch schärfer, indem er sagt: Jesus als vollkommener Mensch kann nicht nur, sondern muss sogar in Bildern verehrt werden. Wird dies verneint, so sind Christi Verdienste um die Erlösung der Menschen praktisch verloren. Diese Theorie der Notwendigkeit gab der Ikone nach dem endgültigen Sieg der Bilderverehrer im Jahre 853, dem sogenannten Triumph der Orthodoxie, die Vorrangstellung im Leben und in der Liturgie der orthodoxen Christen.

Diese Ereignisse leiteten eine Welle der Entwicklung der byzantinischen Kunst ein. Im Hintergrund dieser Entfaltung steht die Missionierung Europas durch Kyrill und Methodius – Brüder aus Saloniki, byzantinische Priester und Gelehrte, Slavenapostel genannt. Nachdem die Menschen lesen und schreiben lernten, begannen sie, die Gebete und die theologischen Texte zu verstehen. Viele Länder wurden christianisiert, die altslavische Liturgie und die Ikonenverehrung verbreiteten sich im Westen. Im Jahr 1453 kam es zum sogenannten Fall Konstantinopels, der Hauptstadt des Byzantinischen Reiches – damit ist die Eroberung Konstantinopels durch das Osmanische Reich und die Araber und somit der Untergang des Byzantinischen Reiches gemeint. Es blieb weltweit nur ein Ort, an dem die ostkirchliche Tradition weiterlebte: das Großfürstentum Moskau, das zur Keimzelle des späteren russischen Reiches wurde. Seit dem 15. Jahrhundert kam es dort zu einer prächtigen Entwicklung der Ikonenkunst, vor allem aber der sogenannten Ikonostasen. Die Ikonostase ist eine mit Ikonen geschmückte Wand mit drei Türen, die das innere Kirchenschiff vom Altarraum trennt. Die Bezeichnung: „Ikonen sind Fenster zum Himmel“ geht auf die Ikonostase zurück: Die Ikonen schauen wie Fenster aus, durch die die ganze Schar von Engeln und Heiligen auf uns blickt. Ganz richtig werden die Ikonen von der Ostkirche als heilige Bilder bezeichnet, denn in der orthodoxen Kirche werden sie – auch liturgisch – besonders verehrt. Die sakrale Kunst in der römisch-katholischen Kirche im Westen folgte mehr dem Naturalismus und entwickelte die Malerei, deren Ziel es ist, das Zeitliche darzustellen und die Sinne anzusprechen. Dabei treten der Stil und die individuelle Handschrift des Künstlers immer mehr in Vordergrund. Die Ikonen stellen die verwandelte, himmlische Wirklichkeit dar und werden auch nie signiert.

Maltechniken für Ikonen

Welche Farben und Maltechniken werden beim Ikonenschreiben verwendet?

Heutzutage wird mit Naturpigmenten gearbeitet, die gerieben und gemahlen in Form eines Farbpulvers mit Eigelb und Weißwein angerührt werden. Diese Mischung kennen wir allerdings erst ab dem 9. Jahrhundert. Davor wurde in der Enkaustik-Technik gemalt. In dieser Maltechnik werden Farbpigmente mit heißem Wachs verbunden. Eine der frühesten Christusdarstellung – die Pantokrator-Ikone aus dem Katharinenkloster auf dem Berg Sinai aus dem 6. Jahrhundert – ist damit gemalt. Auch die berühmten ägyptischen Mumienporträts wurden zum Beispiel in Enkaustik gemalt. Zwei führende „Subtechniken“ in der Ikonenmalerei sind Proplasmos- und Membrantechnik. Der Unterschied zwischen ihnen lässt sich leicht merken: Bei der Proplasmos-Technik werden die dunklen Farbschichten, die als Grundlage gelten, stufenweise aufgehellt – der Weg ist also vom Dunkel ins Licht. Bei der Membran-Methode ist es umgekehrt: Die monochromatische Skizze wird Schicht für Schicht verdunkelt. Der Weg bei der Proplasmos-Technik vom Dunkel ins Licht lässt sich auch theologisch in Bezug auf die Entstehung einer Ikone wunderbar interpretieren, so wie es im Brief der Kolosser, Kapitel 1 heißt: „Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes.“ Oder auch im Johannesevangelium im 8. Kapitel: „Ich bin das Licht der Welt.“

Gibt es auch verschiedene Stile und Richtungen, eine Ikone zu malen? Gibt es etwa auch moderne Ikonen?

Grob lassen sich Ikonen in Bezug auf ihre kirchengeschichtliche Entwicklung in russisch-orthodoxe, byzantinische und orientalisch-orthodoxe – zum Beispiel koptische und aramäische – unterscheiden, wobei die Unterschiede eher für ausgebildete Künstler beziehungsweise Theologen erkennbar sind. Die koptischen Ikonen zum Beispiel charakterisieren sich durch die kleinen, etwas robusten Gestalten, da sie durch die altägyptische Kunst beeinflusst sind. Das kann man auf der berühmten Ikone „Christus und Menas“ gut sehen. Die russischen Ikonen sind allgemein gesehen feiner und zarter als die byzantinischen und zwar deshalb, weil man in Russland kaum in Enkaustik gemalt hat, sondern mit Eitempera. Mit Eitempera kann man feinere Linien ziehen, wodurch die Ikone „leichter“ und heller wirkt. Zu den anderen Unterscheidungsmerkmalen gehören die Architektur oder die Pflanzen, die logischerweise ortsspezifische Nuancen beinhalten, sowie die Beschriftung, die entweder in altkirchenslawischen oder in griechischer Sprache angefertigt wird.

Was das Thema „moderne Ikonen“ angeht, ist die Thematik etwas komplizierter und die Meinungen der Ikonographen sind geteilt. Zuallererst sollt man sich fragen, was man unter „modern“ verstehen will. Themen, die bisher nicht vorgekommen sind? Oder die Art und Weise zu malen? Die Formensprache? Hans Sauter, mit dem ich Ikonenkurse halte, sagt, dass eine Ikone, die in der überlieferten Art heute gemalt wird, keine moderne, sondern „eine heute gemalte“ Ikone ist. Modern im Sinne von „anderer Stil“ gibt es tatsächlich nicht. Manche Ikonographen versuchen die großen menschlichen Nöte unserer Zeit in Ikonen einzubauen, wie es zum Beispiel auf der Ikone „Christus tröstet die Kinder von Tschernobyl“ zu sehen ist. „Mir ist keine Ikone bekannt, die in dieser drastischen Weise auf ein aktuelles Unglück Bezug nimmt“, schreibt Wolfgang Fleckenstein – Ikonenmaler und ehemaliger Professor für Religionsdidaktik und Bildungsfragen an der Luxembourg School of Religion and Society in der Erzdiözese Luxemburg.

Neuschöpfungen wie die „Kinder von Tschernobyl“ sind ernst zu nehmend. Sie beruhen auf der authentischen Tradition und sind nicht der Fantasie oder Kreativität eines Einzelnen entsprungen. Ich denke, es ist wichtig, zwischen einer authentischen spirituellen Tradition, die auf dem Geist des Gebets und einer gläubigen religiösen Praxis beruht, und einem „künstlerischen Experiment“, das mit religiösen Inhalten und Symbolen „frei spielt“, um einfach die kreative Ader auszuleben, zu unterscheiden. Letztendlich ist die Authentizität einer Ikone auf das Gebet und auf die Verkündigung der Erlösungsbotschaft Christi zurückzuführen. 

Wie Ikonen entstehen

Es heißt: Eine Ikone entsteht im Klima des Gebets. Das Gebet ist dabei kein „Muss“, eher eine Selbstverständlichkeit. Sie haben erzählt, dass Sie bei Auftragsarbeiten nach einem Anliegen fragen, in dem Sie beten können, und wenn es das nicht gibt, Sie gerne das Jesusgebet beten. Was ist das genau?

Schon der heilige Paulus empfiehlt im ersten Brief an die Thessalonicher: „Betet ohne Unterlass!“ Doch man fragt sich: Wie soll das geschehen? Wie soll das möglich sein? Der Mensch muss schlafen, essen, arbeiten und ruhen, wie kann er ohne Unterbrechung beten? Die Antwort liegt im Wort: „Atem“. Ob wir schlafen oder essen, ob wir arbeiten oder ruhen: Wir atmen. Das Jesusgebet besteht darin, dass man den Satz: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“ – in einer längeren Fassung „Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner, des Sünders“ – langsam in den Atem-Rhythmus einführt. Rein biologisch betrachtet werden durch die Atmung alle Zellen des Körpers mit lebensnotwendigem Sauerstoff versorgt. Gleichzeitig wird Kohlendioxid aus dem Körper ausgeschieden. Wenn wir dieses Bild auf das geistliche Leben übertragen, können wir sagen: Beim Einatmen, indem wir still: „Herr Jesus Christus“ beten, füllen wir uns mit Leben – er ist das Leben. Beim Ausatmen beten wir: „Erbarme dich meiner“ und lassen somit alles, was uns belastet, los. Nach einiger Zeit der Einübung hört das Sprechen auf und das Gebet klingt geistig weiter, man beginnt „betend“ zu atmen.

Die Formel des Jesusgebetes hat eine tiefe theologische Bedeutung. Es ist ein „kompaktes“ Glaubensbekenntnis, das die fundamentalen Wahrheiten über Christus – dass Er Mensch, Herr und Gott ist – und über den Menschen – dass er der Erlösung bedarf – ausdrückt. Dadurch umfasst das Jesusgebet die ganze Theologie. Der Name Jesu wird in der Formel des Jesusgebetes von einem Sündenbekenntnis begleitet. Es ist das Gebet des Zöllners aus dem Evangelium: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ und des Blinden von Jericho: „Jesu, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“
Die Wiederholung des Namens Jesu meint kein „blindes Wiederkauen“, sondern sie zielt gerade auf das Verstummen jedes Sprechens und Denkens ab, damit sich der Geist zu Gott erheben kann. Beten hat eine Dimension des Seins, es bedeutet, einfach „vor Gott zu sein“. Die Väter bezeichnen das Jesusgebet als Gebet der Armen. Die Armut, von der die Rede ist, geht auf den „schmalen Weg nur eines Verses“ zurück. Diese Armut ist streng. Jedoch weist Bischof Kallistos von Diokleia darauf hin, dass man die Anrufung des Namens Jesu nicht als ein Gebet, das von Gedanken entleert, sondern als eines, das mit dem Geliebten gefüllt ist, empfinden soll.

„Das Ikonenschreiben ist wie das Leben“

Sie sagen: „Das Ikonenschreiben ist wie das Leben“. Wie meinen Sie das genau? Welche persönliche Erfahrung hat Sie zu dieser Einsicht kommen lassen?

Kurz nach der Eröffnung der Ikonenwerkstatt in unserem Kloster habe ich begonnen, an einer Ikone zu arbeiten – mehrere Wochen vergingen, bevor ich mit der Ikone fertig war. Dass ich es selbstständig bis hierher geschafft hatte, ohne Hilfe und ohne „Rückenstärkung“ von meinen Lehrern und Lehrerinnen, hat mich sehr gefreut. Nun wollte ich das Bild versiegeln und besorgte für diesen Zweck in einem Fachgeschäft ein Konservierungsmittel. Nach der Versiegelung entstanden auf der Oberfläche des Bildes weiße Flecken und sogar kleine Bläschen. Die Ikone war nicht zu retten. Ich weinte die ganze Woche und spielte mit Gedanken wie: „Das war vom Anfang an eine schlechte Idee; ich kann es nicht und hier ist der Beweis dafür!“ Ich musste die Ikone mit Schleifpapier bis zum weißen Brett reinigen und es fühlte sich so an, als ob ich dabei die ganze Ausbildung, ja mein ganzes Fachwissen gelöscht hätte. Beim Malen der nächsten Ikone zitterte meine Hand. Dann kam mir spontan ein Gedanke in den Sinn, dass ich dabei eigentlich etwas Wertvolles gelernt habe, nämlich, womit eine Ikone NICHT zu versiegeln ist.
Bald fand ich auch ein anderes Mittel und mit Hilfe einer erfahrenen Künstlerin lernte ich, es richtig zu verwenden. Das abgenutzte Brett dient mir bis heute als – wirklich wertvolle – Stütze für die Hand beim Malen. Es stützt mich auch im weiteren Sinne: Es erinnert mich daran, dass das Leben ein Lernprozess ist, in dem ich manchmal auf die Hilfe der anderen angewiesen bin – als Gegenteil zur Selbstgenügsamkeit. Vor allem aber erinnert es mich daran, dass ich beim Ikonenschreiben viel mehr als allein „das Malen“ lerne.

Es war wirklich erstaunlich, als einmal eine Studentengruppe unsere Werkstatt besucht hat und ich, nachdem ich genau diese Geschichte erzählt hatte, gefragt wurde, ob es erlaubt sei, ein paar Fotos zu machen. Nach meiner Zusage begannen die jungen Menschen einer nach dem anderen, nicht die Ikonen, sondern das abgenutzte Brett zu fotografieren. Ich war sprachlos. Plötzlich unterbrach die Stimme eines Studenten die Stille: „Diese Geschichte hat mir viel Hoffnung gegeben! Ich fühle mich so oft wie dieses Brett da, einfach zu nichts mehr tauglich. Jetzt denk‘ ich aber, dass sich Gott vielleicht beim ‚Malen der Welt‘ wenigstens an mich lehnen kann und sich somit bei seiner Arbeit leichter tut!“

Der Weg der Selbstwerdung hat viel mit Selbstannahme, Selbstakzeptanz und Selbstliebe zu tun. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – so lautet das wichtigste christliche Gebot. Das Antlitz Christi oder die Gesichter der Heiligen, die wir malen, sind wie Spiegel, die uns uns selbst offenbaren. Plötzlich sieht man sich von innen. Plötzlich zittert die Hand, weil man sieht, wie schief die Linien, vielleicht auch jene des eigenen Lebens, sind, wie „fleckig“ das Gewand, vielleicht des eigenen Herzens, ist und wie weit man von der Vorlage, dem Abbild, abweicht. Es verlangt viel Mut, trotz all dem beim Malen zu bleiben, die nötigen Korrekturen zu machen beziehungsweise sie zuzulassen und daran zu glauben, dass „Seine Gnade genügt“. Nicht umsonst sagt man, dass Ikonographen Pigmente mit Tränen mischen. Doch wie es schon in Psalm 126 heißt: „Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten!“

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