Europa ohne Christentum?

Was wir der Kirche verdanken
Ausgabe Nr. 1
  • Theologie
Autor:
christliches Erbe Europa in Aquarellbild dargestellt
Unzählige Kirchengebäude sowie die Fülle an Kunst und Kultur, die den christlichen Glauben tausendfach ausbuchstabieren, prägen Europa. ©generiert von OpenAI
Kirchenhistoriker Thomas Prügl
Thomas Prügl: „Mit einem Fuß im Himmel, mit einem auf der Erde.“ ©privat

Christentum und Europa: Historiker Thomas Prügl erzählt, wie das frühe Christentum Europa geprägt hat. Eine faszinierende Geschichte über die aktuelle Bedeutung des Christentums.

NEUE SERIE - Im Interview mit dem SONNTAG erfahren wir vom Wiener Kirchenhistoriker Thomas Prügl über die Strahlkraft des frühen Christentums. 

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Was würde fehlen, gäbe es kein Christentum, keine Kirche in Europa?

Thomas Prügl: Jede Kultur wird von den religiösen Überzeugungen der jeweiligen Zeit geprägt, und jede Zeit prägt wiederum die Religion. So gesehen kann man Europa und Christentum gar nicht voneinander trennen. Das Christentum hat die europäische Geschichte in allen Belangen beeinflusst, es hat Europa erst zu dem gemacht, was es heute ist: ein Kontinent, auf dem Frieden und Gerechtigkeit als höchste Güter betrachtet werden, auf dem Mitmenschlichkeit, Solidarität und ein Verantwortungsgefühl für die Welt und die Schöpfung von den allermeisten Menschen geteilt wird, auf dem Freiheit und Menschenwürde als Grundrechte geschützt sind. All das sind zutiefst christliche Haltungen und Folge eines theologischen Verständnisses vom Menschen als Bild Gottes. Europa ohne Christentum kann man sich nicht vorstellen. Damit meine ich in erster Linie nicht einmal die unzähligen Weg- und Gipfelkreuze, die Kirchengebäude, die Fülle an Kunst und Kultur in Musik, Literatur, Malerei etc., die den christlichen Glauben tausendfach ausbuchstabieren. Das Christentum ist gewissermaßen die "Seele" Europas, ein Lebensprinzip, das auch wirkt, wenn sich viele Menschen nicht mehr offen zu den christlichen Kirchen bekennen. Ein Kontinent ohne Christentum wäre schlichtweg "gnaden-los".

Schon von Anfang an haben Christen das Neue des Christentums der damaligen Gesellschaft erklärt. Was ist das Neue und Aufregende der christlichen Botschaft?

Am Beginn des Christentums steht der Glaube, dass durch Jesu Leiden, Tod und Auferstehung die Sünden vergeben werden und ein Zugang zum ewigen Leben eröffnet wird. Die theologischen Vorstellungen hierfür bot das Alte Testament und der Glaube des Judentums. Das junge Christentum wandte sich mit dieser Heilsbotschaft jedoch bewusst an alle Menschen, Juden und Heiden. Es ließ damit die Begrenzungen der jüdischen Religion hinter sich. Von der antiken Umwelt wurde den Christen gleichermaßen Bewunderung und Unverständnis entgegengebracht. Der Brief an Diognet, ein theologisches Meisterwerk aus dem frühen 2. Jahrhundert, bietet eine eindrucksvolle Selbstbeschreibung der Christen. Der Verfasser erklärt, warum die Christen bereit sind, für ihren Glauben sogar das Martyrium auf sich zu nehmen. Er verweist auf die paradoxe Existenz der Christen: "Sie sind arm und machen viele reich. Sie tun Gutes und werden wie Übeltäter bestraft. Sie weilen auf Erden, aber ihr Wandel ist im Himmel." Das Zentrum der christlichen Religion sei nicht ein äußerer Kult, sondern ein neues Verhältnis zu Gott. Für die Christen ist Gott Liebe und in der Liebe werden sie zu Nachahmern Gottes. Was die Seele für den Leib ist, das sind die Christen in der Welt. Mit diesem gewagten Vergleich drückt der Autor des Diognetbriefes sowohl die ablehnende Distanz der Christen gegenüber der antiken Öffentlichkeit aus, als auch ihr Selbstbewusstsein, etwas Wesentliches für die Welt zu verkörpern.

Warum war das Christentum damals so attraktiv, warum ist es heute noch attraktiv?

Im Vielvölkerstaat des antiken Römischen Reiches gab es eine Vielzahl von Göttervorstellungen und Erlösungskulten. Im Unterschied zu heute bewegte die Frage nach dem wahren Gott und der rechten Gottesverehrung viele Menschen zutiefst. Umgekehrt herrschte eine schreckliche Angst vor Dämonen und einem unberechenbaren Schicksal. Das Christentum hatte auf diese Befürchtungen und Sehnsüchte eine gute Antwort: Der Mensch gewordene Gottessohn brach die Macht der Dämonen und brachte Heilung. Gleichzeitig schuf der Glaube an ihn eine neue, universale Gemeinschaft, die nach den Maßstäben des Reiches Gottes lebte. Genau darin lag die Attraktivität des Christentums. Man könnte sie auf drei Punkte reduzieren: zunächst ein auch philosophisch vernünftiger Glaube an Gott, der sich im Logos offenbart, sodann ein Lebensziel bzw. eine Hoffnung, wie sie in den Seligpreisungen der Bergpredigt formuliert ist, und schließlich eine Ethik, die auf dem Doppelgebot der Liebe beruhte und die einen neuen Umgang unter den Menschen begründete. Die frühen Christen verfolgten dabei kein politisches Programm, sie verstanden sich auch nicht als elitäre philosophische Schule, sondern lebten in der Überzeugung, "Hausgenossen Gottes" (Eph 2,19) zu sein. Bildlich gesprochen standen sie mit einem Fuß im Himmel, mit einem auf der Erde. Das wiederum verlieh ihnen eine ungeheure innere Freiheit gegenüber allen Ideologien und Verfolgungen.

Heute punktet das Christentum v.a. mit sozialem Engagement, mit Initiativen zum Frieden und zur Bewahrung der Schöpfung. Die Beweggründe engagierter Christinnen und Christen sind dabei denen der ersten Jahrhunderte nicht unähnlich. Vielleicht war in früheren Jahrhunderten das Staunen über die Menschwerdung Gottes und damit über das Geheimnis Gottes und die Bestimmung des Menschen selbst noch prägender als heute.

Die Zeit der Völkerwanderung ist gleichsam eine Zäsur in Europa. Wie haben in der Zeit danach die Klöster das Erbe Europas und des Christentums bewahrt?

Viele Faktoren trugen zur Entstehung des heutigen Europas bei. Die Christianisierung der germanischen Stämme und Völker in der Mitte des ersten Jahrtausends war ein langwieriger Prozess, der sich nicht leicht auf einen Nenner bringen lässt. Diese Stämme traten zwar als Eroberer auf, wollten aber von der Zivilisation des Römischen Reiches auch profitieren. Garanten für eine solche Aneignung antiker Kultur waren u.a. Kirchen und Klöster. Während der römische Staat unterging, blieben die kirchlichen Strukturen erhalten. Dass das Christentum in seiner kirchlich verfassten Gestalt vollständig von den frühmittelalterlichen Völkern Europas angenommen wurde, ist dennoch ein erstaunliches Faktum. Es zeugt von der Attraktivität des Christentums und von seiner Anpassungsfähigkeit. Die Germanen fanden die Vorstellung von Christus als siegreichem Heerführer und persönlichem Beschützer überzeugend, auch die Aussicht auf ewiges Leben. Die Bildungselite in den jungen mittelalterlichen Königreichen bestand fast ausschließlich aus Klerikern und Mönchen; sie wurden auch als politische Ratgeber herangezogen. Dadurch wurde das Christentum zum Kulturträger nicht nur einer antiken christlichen Tradition, sondern auch der Geschichte der jungen Völker selbst. Umgekehrt gründete der germanische Adel Kirchen und Klöster, was nicht nur dem Landesausbau diente, sondern auch der Frömmigkeit und Formung der Gesellschaft.

Das Mittelalter wird aber oft als „dunkles“ Zeitalter beschrieben. Trifft das zu?

Missverständnisse über das Mittelalter lassen sich kaum ausrotten. Dabei gab es "das Mittelalter" streng genommen gar nicht. Es ist zunächst ein Begriff, der im 17. Jh. erfunden wurde, um den Zeitraum zwischen dem Ende der Antike und der Reformation zu benennen. In diesem Zeitraum von über 1000 Jahren vollzogen sich atemberaubende Veränderungen, die es schwer machen von ein und derselben Epoche zu sprechen. Wir können Transformationen und Innovationen auf allen Gebieten beobachten: in der Jurisprudenz und der Philosophie, in Wirtschaft, Handwerk und Politik, im Bildungswesen und nicht zuletzt in der Religion. Dem Mittelalter verdanken wir unser Rechtssystem, die Universität, Genossenschaften und Zünfte, den Buchdruck, das Bankwesen und vieles andere mehr. Auch das Christentum durchlief in dieser Zeit enorme Entwicklungen: Klöster wurden zu intellektuellen und wirtschaftlichen Großbetrieben; das Papsttum entwickelte sich zur ersten universalen Behörde; das Ringen zwischen Regnum und Sacerdotium (Investiturstreit) war grundlegend für die Trennung von Kirche und Staat; Freiheitsrechte wurden erkämpft und kirchliche Frömmigkeit führte zu individuellen Lebensentwürfen, auch für Frauen außerhalb von Ehe und Familie. Theologen studierten begierig Texte nichtchristlicher Philosophen, um sie für die intellektuelle Durchdringung des Glaubens fruchtbar zu machen. Gleichzeitig entstand eine "Mystik", die die Grenzen von Sprache und Denken auslotete.

Gewiss geschahen auch immer wieder Fehler. Warum ist das „christliche Abendland“ dennoch auch eine Erfolgsgeschichte?

Mit dem "christlichen Abendland" sollte man heute sehr vorsichtig argumentieren, weil der Begriff politisch missbraucht wird. Bestimmte Gruppen rechtfertigen damit gesellschaftliche Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit, ja sogar Antisemitismus. Wer heute der romantischen Vorstellung eines geeinten christlichen Europas nachtrauert, verkennt, dass das europäische Mittelalter auch religiös vielfältiger war, als man meint. Das Christentum war aber zweifellos die Mehrheitsreligion und drückte den mittelalterlichen Gesellschaften seinen Stempel auf. Populistischen Wortmeldungen beschreiben das mittelalteriche Christentum als restriktive und gewalttätige Religion, die zu Kreuzzügen aufgerufen, Ketzer, Juden und Hexen verbrannt und die Inquisition eingeführt habe. Solche Stereotypen zeugen von wenig Geschichtskenntnis. Hinter den meisten (auch religiösen) Verbrechen auch im Mittelalter standen persönlicher Neid, Habgier und die Lust am Schaden des anderen. Richtig ist hingegen, dass das Christentum und die Kirche im Mittelalter in hohem Maß dazu beitrugen, das Rechtswesen gerechter und professioneller, das Strafsystem humaner und den Schutz von Minderheiten und Benachteiligten effektiver zu machen. Die mittelalterliche Kirche war zudem alles andere als eine monolithische, geschweige denn zentralistische Institution. Die Vielfalt der mittelalterlichen Kirche ist erstaunlich. Die Entstehung neuer Orden (Zisterzienser, Kartäuser, Franziskaner, Dominikaner usw.) zeugt genauso von der Lebendigkeit der mittelalterlichen Kirche wie die Bruderschaften, Hospitäler, Siechenhäuser und andere christliche Stiftungen, in denen sich die Großzügigkeit eines frommen Bürgertums äußerte.

Autor:
  • Stefan Kronthaler
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