Die Pest und das Corona-Virus

Was wir von Camus Roman lernen können
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Autor:
Rudolf Kaisler
Rudolf Kaisler ©Erzdiözese Wien, Stefanie Jeller

Der Roman „Die Pest“ von Albert Camus war eine gefragte Lektüre während des Lock-Downs, und bald ausverkauft. Es ist ein „atheistisches“ Buch, aber die Romanfigur des Jesuitenpaters spricht darin eine entscheidende Botschaft aus - die auch der Kirche heute zu denken geben muss. Der Theologe Rudolf Kaisler von der katholischen Fakultät im Sommergespräch.

Wer hätte gedacht, dass 60 Jahre nach dem Tod von Albert Camus sein Roman „Die Pest“ plötzlich ausverkauft ist! Zur Erinnerung: In einer Stadt in Algerien verenden plötzlich Unmengen von Ratten. Dann stirbt ein Hauswart an einer seltsamen Krankheit. Bald erkennt der Arzt Dr. Rieux, dass es sich um die Pest handelt. Die Stadt wird abgeriegelt. Verzweifelt wird nach einem Serum gesucht. Es folgen viele Szenen, die von verblüffender Ähnlichkeit mit dem Frühjahr 2020 sind, mit der sog. Corona-Zeit, die ja noch nicht zu Ende ist. Die Geschichte von der Pest ist plötzlich ein bisschen auch unsere Geschichte geworden – sobald die Covid-19-Maßnahmen unser Leben betroffen haben.

Der Autor, Albert Camus, ist mit 46 Jahren bei einem Autounfall gestorben. Eigentlich wollte er den Zug nehmen, die unbenützte Eisenbahn-Fahrkarte fand man im Gepäck des Toten. Ein absurder Tod. Dieses Absurde ist für Camus der Ausgangspunkt seiner Philosophie. Eine christliche Hoffnung hat er nicht, erzählt der Wiener Theologe und Camus-Kenner Rudolf Kaisler.

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Was macht Camus für Sie so interessant?

Rudolf Kaisler: Mich fasziniert sein bedingungsloses Eintreten für die Menschen und für die Armen, also sein Humanismus.

Camus hat „Die Pest“ unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Besetzung Frankreichs (1940-1944) geschrieben. Was will er uns sagen?

Rudolf Kaisler: Die Pest ist ein Bild für diese Zeit. Angesichts der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, der Shoa und der Fremdherrschaft in Frankreich wollte er etwas Allgemeines ausdrücken: Wie sich die Menschen in einem geschlossenen Raum verhalten, wie sie sich zur Katastrophe stellen.

Die Pest trifft immer Unschuldige. Beim Nationalsozialismus in Paris gab es viele, die kollaboriert haben. Will Camus die Franzosen entlasten?

Rudolf Kaisler: Nein. Camus war Zeit seines Lebens ein politischer Schriftsteller. Er hat sich in anderen Schriften zum Nationalsozialismus geäußert. Er war Mitglied der Resistance, hat gegen das faschistische Regime gekämpft. Aber in der „Pest“ kann man über die Grundintention hinaus, und das war natürlich die Reflexion auf seine Zeit, weitere Ebenen entdecken. Das macht gute Literatur aus, dass sie sich nicht einfach in ihrem Kontext erschöpft.

So ist „Die Pest“ mit Corona plötzlich aktuell geworden. Welche Momente in den vergangenen Monaten haben Sie an den Roman erinnert?

Rudolf Kaisler: Ganz stark waren die Bilder aus Bergamo: Als ein Konvoi von Militär-LKWs die Toten abgeholt hat, die am Friedhof keinen Platz mehr gefunden haben. Es gibt eine ähnliche Szene in der „Pest“. Dort sind es Rettungswägen, die in der Nacht die Toten abholen und in die Krematorien vor der Stadt bringen. Ich habe sofort im Roman nachgeblättert und war verblüfft über die Ähnlichkeit. Es gibt andere Parallelen auch: Am Anfang spielen die Behörden die Gefahr herunter, plötzlich werden die Tore der Stadt geschlossen. In Österreich wurden ganze Täler abgeriegelt.

Und es gibt die Parallelen, dass man kein Mittel gegen die Krankheit hat, und dass das medizinische Personal bis zur Erschöpfung arbeitet.

Wo sind die Grenzen des Vergleichs? Die Pest ist ja viel tödlicher…

Rudolf Kaisler: Im Roman ist die Pest auf eine Stadt beschränkt, die gut abgeriegelt werden kann. Auch die Art der Krankheit ist anders, die Pest ist in der europäischen Kulturgeschichte etwas Bekanntes. Covid 19 ist neu, wir haben keine Erfahrungswerte weder medizinisch noch kulturell. Man kann also nicht alles parallel setzen.
Die auffallendste Parallele aber besteht darin, wie die Bewohner die Pest erleben.
Es gibt Personen, die gar nicht oder sogar gut damit zurechtkommen. Es gibt solche, die sich an der Situation bereichern, oder fliehen. Es gibt Personen, die resignieren, und Personen, die kämpfen.

Einer, der kämpft, ist die Hauptfigur, der Arzt Dr. Rieux. Er besucht unermüdlich seine Patienten, er sieht das Sterben…

Rudolf Kaisler: Der Arzt Dr. Rieux ist die personifizierte Revolte. Das ist ein wichtiger Begriff bei Camus. Revolte meint im Französischen etwas wie „sich empören“, seine Stimme erheben, damit das Schweigen nicht als Zustimmung missdeutet wird; damit die Absurdität der Situation nicht in Resignation oder Indifferenz endet. Der Arzt kämpft gegen die Krankheit, kann aber fast nichts dagegen tun.

Eine philosophische Ebene wird deutlich: Rieux kämpft gegen das Leiden in der Welt. Aber er setzt keine Hoffnung auf Gott oder ein Jenseits. Von dem schweigenden Himmel erwartet er sich nichts.

Das führt zur Konfrontation mit der Romanfigur des Jesuitenpaters. Welche Rolle spielt das Christentum in der „Pest“?

Rudolf Kaisler: Pater Paneloux ist zerrissen zwischen klassischen theologischen Antworten, die er erlernt hat. Es gibt eine erste Predigt, in der er die Pest als Strafe Gottes anpreist. „Ihr habt es verdient“, sagte er, und „sie wird uns etwas lehren“. Das ist natürlich eine Form des Christentums, die Camus – und auch der Arzt – ablehnen. Aber das ist nicht das Ende des Zwiegesprächs mit dem Christentum für Camus. Es gibt eine Schlüsselszene im Buch, das ist der Tod eines Kindes. Danach wirft der Arzt dem Pater vor: „Zumindest dieses Kind war unschuldig!“ Der Pater verteidigt sich nicht. Seine nächste Predigt ist anders. Er zitiert aus einer alten Pest-Chronik, die von einem Kloster berichtet, in dem fast alle Mönche sterben, die anderen fliehen und nur einer bleibt. Daraus folgt, so der Pater in der Predigt: „Brüder, jeder muss der sein, der bleibt!“ – Moralisch ist das der Höhepunkt des Buches: Bei den Menschen blieben!

Also, der Pater spricht das aus, was der Arzt tut: Er bleibt bei den Menschen.

Rudolf Kaisler: Beide bleiben. Aber den Pater ereilt dann der Tod. Rieux wird zum Erzähler der „Pest“. So wird das erfahrene Leid festgehalten. Und er zieht aus der Katastrophe den Schluss, dass es „an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt“.

Es geht darum, im Ernstfall bei den Menschen zu bleiben.

Wie haben Sie die Rolle des Christentums während des Corona-Lockdowns erlebt?

Rudolf Kaisler: Sehr zwiespältig. Man hat versucht, zu tun, was man tun kann, war aber gezwungen, Dinge aufzugeben: die Gottesdienste, vor allem aber die Seelsorge und die Krankenpflege. Die Kirche musste sich von den Sterbenden zurückziehen. Die Frage ist, was ist die Aufgabe der Kirche in so einer Zeit? Papst Franziskus hat das klar benannt: Man muss den Kranken beistehen.

Sollte die Kirche bei den Kranken bleiben, auch wenn sie ansteckend sind?

Rudolf Kaisler: Die Kirche wird sich dieser Frage stellen müssen – und hat es teilweise schon getan. Es gibt keine einfache Lösung. Die staatlichen Regeln zu missachten ist keine gute Alternative. Aber das Diakonische, die Seelsorge, ist ein wesentliches Element des Christentums. Dabei bedarf es einer zwischenmenschlichen Begegnung. Die beste Videokonferenz kann ein Gespräch in Präsenz nicht ersetzen.

Autor:
  • Stefanie Jeller
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