Kulturerbe: Der letzte Ratschenbauer
Brauchtum zu OsternEs ist ein kalter Jännertag, jedoch weht kein eisiger Nordwind wie die Tage zuvor. Zunächst mit der Eisenbahn und danach mit dem Regionalbus geht es über das weite Land des Weinviertels. Mein Ziel ist Herrnbaumgarten im Bezirk Mistelbach ganz nahe der Grenze zur Tschechischen Republik. Es hat leicht geschneit. Mein Blick durchs Fenster schweift über die endlosen Flächen der Felder, die bis zum Horizont reichen. Hie und da steht ein Baum inmitten von gleichmäßig gezogenen Äckern.
Die sanft hügelige Landschaft wird nur unterbrochen von den verstreuten Ortschaften. Neben den Kirchtürmen bestimmen die Lagerhaustürme das Bild der Dörfer. Bei meiner Fahrt übers Land tauchen in einiger Entfernung Erdölpumpen und Windräder auf. Irgendwann tönt aus dem Lautsprecher „Herrnbaumgarten Ortsmitte“. Von der Bushaltestation an der Hauptstraße biege ich in die Kellergasse ein, in der die für die Region typischen, nun frisch renovierten Presshäuser stehen. Ich bin auf der Suche nach dem letzten Ratschenbauer von Niederösterreich. Nach ein paar hundert Metern gibt ein Schild den entscheidenden Hinweis: „Der Ratschenbauer“.
Das Schiebetor zur Scheune steht halb offen, ich poche auf das Torblech und trete ein. Vor mir steht Ernst Ribisch mit seiner blauen Arbeitsschürze und erwartet mich schon. Seit fast 40 Jahren baut er schon Ratschen in unterschiedlichen Formen.
Wie hat alles begonnen? Als gelernter Maurer musste er witterungsbedingt in den Wintermonaten zu Hause bleiben. In dieser „toten Zeit“ – so seine Worte – hat er sich eine Beschäftigung gesucht und hat seine Freude und Leidenschaft beim Bearbeiten von Holz gefunden. Er hat mit dem Drechseln begonnen, die Drechselmaschine hat er gemeinsam mit seinem Schwiegervater in der Steiermark abgeholt. Zunächst hat er aus Holz Möbelfüße vor allem für Kästen gedrechselt, irgendwann ist Ribisch beim Bau von Osterratschen gelandet. Das hat auch einen tiefen Grund, der sich in den Kindheits- und Jugendtagen des Weinviertler Handwerkers finden lässt.
Die Bauweisen sind von Ortschaft zu Ortschaft unterschiedlich.
Keine gute Erinnerung als Ratschenbub
Ernst Ribisch war selbst Ministrant und damit natürlich auch Ratschenbub. An seine aktive Zeit erinnert er sich nicht gerne: „Ich hatte eine Ratsche, die komplett baufällig war. Sie hat an allen Ecken und Kanten gewackelt. Die Zungen sind ständig abgebrochen, weil man von den Apfelsteigen die Latten genommen hat. Diese haben die Nässe und Kälte kaum ausgehalten. Das Ende vom Lied: Ich konnte die kaputte Ratsche wieder nach Hause tragen. In diesem Augenblick habe ich mir geschworen, wenn es einmal möglich sein wird, dann möchte ich selber eine Ratsche bauen.“
Diesen Vorsatz hat er Jahre später in die Tat umgesetzt. Er hat sich im Laufe der Zeit viel selber angeeignet, sich aber auch von älteren Tischlern etwas abgeschaut und Dinge weiterentwickelt. Während wir plaudern, erzählt er mir, dass es historisch das Ratschenbauen als eigenes Handwerk so nie gegeben hat. Neben der Uraufgabe des Wagners – dem Wagen – stellten die Mitglieder dieser Zunft aber auch Pfluggestelle, Holzteile für landwirtschaftliche Geräte, Leitern, Schubkarren, Stiele aller Art oder eben Ratschen her.
Die Eschen kommen aus dem eigenen Wald, die Lagerzeit des Holzes beträgt insgesamt zehn Jahre.
Ratsche: Auf das richtige Holz kommt es an
Als Standard-Ratsche hat der Mann aus Herrnbaumgarten die Schubkarrenratsche im Programm. „Ich habe einen Prototyp gebaut und kann damit auch testen, ob eine Riffelwalze im Zusammenspiel mit den Zungen gut funktioniert“, erzählt Ribisch. „Das Machen der Riffelwalze hat mir ein sehr erfahrener Tischler gezeigt, vor allem wie man die Zähne herausschneidet. Das muss exakt passen.“ Für diese Zahnwalze verwendet der Ratschenbauer eine bestimmte Holzart. „Eschenholz wird mit den Jahren zäh und fest und lässt sich gut für die Riffelwalze verwenden, weil es auch sehr lange hält. Verwendet man hingegen weiches Holz, wird dieses bald abgenutzt und dann rattern die Zungen im Zusammenspiel mit der Walze nicht mehr ordentlich.
Beim Herausschneiden der Rillen merkt man, wie hart das Eschenholz wirklich ist, weil die Bandsäge schnell stumpf wird.“ Die Lagerzeit des Eschenholzes beträgt insgesamt zehn Jahre. „Die Bäume suche ich im eigenen Wald aus, im Winter wird geschlägert. Die ersten Jahre wird das Holz draußen am Holzplatz gelagert. Danach wird es grob zurechtgeschnitten und trocken im Schupfen aufbewahrt.“ Für den Kasten und die Zungen einer Schubkarrenratsche verwendet Ernst Ribisch Eichenholz. Die Bauweisen sind von Ortschaft zu Ortschaft, von Region zu Region unterschiedlich, manche Schubkarrenratschen haben ein Rad, andere wiederum zwei Räder. Ribisch baut seine Ratschen immer mit zwei Rädern, „weil die Kinder damit nicht so leicht umkippen können“.
Immer wieder erfinderisch beim Ratschenbau
Aber der Ratschenbauer fertigt nicht nur einen Typ von Osterratsche an. In seiner als Werkstatt umfunktionierten Scheune präsentiert er mir eine Standratsche, die unter anderem in der Buckligen Welt eingesetzt wird. Mit einem Riemen wird sie auf der Schulter getragen. Die Ratscher gehen von Haus zu Haus, stellen sie dort davor ab und beginnen zu kurbeln und Lärm zu machen.
Zum Lärmbrauch
Der Überlieferung zufolge schweigen die Glocken von Gründonnerstag nach dem Gloria der Messe vom letzten Abendmahl, den gesamten Karfreitag und Karsamstag über bis zum Gloria in der Osternacht. So übernehmen die Kinder anstelle der Glocken die Aufgabe, zu den üblichen Läutezeiten (morgens, mittags, abends), zur Todesstunde Jesu am Kreuz und während der Gottesdienste zu ratschen.
Ein gängiges Gebet, der „Engelsgruß“, wird dabei oft rezitiert: „Wir ratschen, wir ratschen den Englischen Gruß, den jeder katholische Christ beten muss. Kniet's nieder, kniet's nieder, fallt's auf die Knie, bet's ein Vater Unser und drei Ave Marie”“ Oft variieren die Sprüche nach dem Zeitpunkt. So lauten sie mancherorts am Gründonnerstag "Wir ratschen die Todesangst Christi", am Karfreitag "Wir ratschen das bittere Leiden und Sterben unseres Herrn Jesu Christi".
In vielen Gemeinden gibt es eine führende Person, die bestimmt, wann geratscht wird und die Gebete gesprochen werden. Der Vorratscher geht mit einem Palmbuschenstecken in der Hand und zeigt den Ratschenkindern an, wo sie stehen bleiben müssen. Je nach dem Alter gliedern sie sich in "kleine", "mittlere" und "große" Ratscher und von Generation und Generation werden die Sprüche und Halteorte weitergegeben. Die Ratschen werden mit Krepppapier und Buchsbaumzweigen geschmückt. In manchen Gegenden werden auch Heiligenbilder auf die Ratsche montiert.
Aus ganz Niederösterreich kommen seine Kunden, aber auch aus dem Burgenland oder aus Tirol. Sogar Anfragen aus dem Ausland gelangen nach Herrnbaumgarten. „Ein Mann mit 85 Jahren ist von Ulm gekommen und wollte einen echten Schubkarren, der als Ratsche dient. Jetzt musste ich alles umbauen, ein anderes Rad montieren, aber es funktioniert einwandfrei. Der Kunde hat sich das Auftragswerk aber noch nicht abgeholt.“ Für Auftraggeber aus der Schweiz und für einen Pfarrer aus Stuttgart hat er Kastenratschen gebaut. „Diese werden über die engen Stiegen eines Kirchenturms hinaufgetragen und damit wird von dort in der Höhe zu den bestimmten Uhrzeiten geratscht.“
Weitere Modelle im Repertoire des Handwerkers sind die Brettratsche, die um den Bauch gebunden wird, die Flügelratsche, der Klassiker unter den Ratschen, oder deren große Schwester, die Fahnenratsche, die in den Voralpen zum Einsatz kommt. Die Klapperratsche verwenden die Ministranten bei der Wandlung in der Heiligen Messe vom Letzten Abendmahl am Gründonnerstag anstatt der Altarschellen.
Nicht nur neuwertige Produkte wie etwa eine „Ratsche mit Handbremse“ fertigt Ernst Ribisch an. „Wenn die Bremse gedrückt wird, werden die Zungen nach oben verschoben und es gibt beim Fahren kein Geräusch mehr.“ Er repariert auch Ratschen, die in der Familie von Generation zu Generation weitergegeben werden. Auch arbeitet er mit Pfarren zusammen, wenn Teile von alten Ratschen auszutauschen sind. Sein Wunsch ist es, dieses Angebot von Reparaturen noch zu erweitern.
Das Erbe der Ratschen nicht vergessen
Ernst Ribisch setzt sich stark dafür ein, dass das Brauchtum des Ratschens in der Karwoche nicht in Vergessenheit gerät. So bietet er Ratschenbaukurse für Kinder an. Unter seiner fachkundigen Anleitung können die Kinder ihre Osterratsche mit vorgefertigten Bauteilen selbst zusammenbauen.
Zum Abschied – mittlerweile haben wir unsere Plauderei schon von der kalten Scheune in die warme Stube verlegt – weist mich Ernst Ribisch auf einen besonderen Brauch hin, der ursprünglich aus der Slowakei und Tschechien stammt und im Weinviertel nur in Herrnbaumgarten noch gepflegt wird. „Zu Ostern gehen die Herrnbaumgartner Buben und Mädchen mit dem ‚Kowatsch‘ von Haus zu Haus, klopfen damit an die Tür und bitten um ein rotes Ei. Am Ostersonntag sind die Buben dran, am Ostermontag die Mädchen. Der Kowatsch wird aus frischen Weidenruten geflochten und ist ein altes Fruchtbarkeitssymbol.“
Interessanterweise ernannte die UNESCO den Brauch des Ratschens im Jahr 2015 zum immateriellen Kulturerbe Österreichs. Auf ihrer offiziellen Webseite wird das Ratschen beschrieben als ein traditioneller Lärmritus, der in den Tagen vor Ostern in vielen Regionen Österreichs in unterschiedlichen Ausprägungen zelebriert wird.