Daodejing: Was zu Gott führt

Sommergespräche
Ausgabe Nr. 32
  • Spiritualität
Autor:
„Sagst du Gott, verschwindet Gott. Such in deinem Herzen!“
„Sagst du Gott, verschwindet Gott. Such in deinem Herzen!“, Bruder David in Anspielung auf den ersten Satz des Daodejing. ©Susanne Windischbauer
In einem Buch erklärt David Steindl-Rast die Weisheiten des Daodejing.
In einem Buch erklärt David Steindl-Rast die Weisheiten des Daodejing. ©Susanne Windischbauer
©Susanne Windischbauer
©Susanne Windischbauer

Bruder David Steindl-Rast ist 98 Jahre alt und ein wacher Geist. Vor kurzem hat er ein Buch über die Weisheiten des chinesischen Daodejing geschrieben und darin die menschliche Urreligiosität gefunden.

Dao heißt übersetzt: der Weg. Bruder David sagt: „Der Weg ist alles, was zu Gott führt“, und darf nicht auf Jesus Christus beschränkt werden. Vor kurzem hat er ein Buch über die Weisheiten des Daodejing geschrieben. 

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Urreligiosität im Daodejing

Was ist die Urreligiosität, die Sie im Daodejing entdeckt haben?

Bruder David Steindl-Rast: Die Urreligiosität ist das, was uns zu Menschen macht. Wir Menschen können nicht umhin, uns mit dem großen Geheimnis des Lebens, das manche Gott nennen, auseinanderzusetzen. Da ist noch sehr wenig in Worte gefasst. Es ist die Auseinandersetzung mit dem Unaussprechlichen. Wir erleben es zum Beispiel bei der Geburt eines Kindes oder beim Tod eines Menschen. 
 

Daodejing: Die Urreligion "des Herzens"

Viele Menschen sagen aber von sich, sie seien nicht religiös …

Sie wollen nichts mit den Religionen zu tun haben, weil sie irgendwann erlebt haben, dass die Religionen ihre Urreligion, die „Religion des Herzens“, verraten haben oder nicht mehr richtig repräsentieren. Aber alle Lehren und Riten sind uns nur deshalb so wichtig, weil sie die „Religion des Herzens“ ausdrücken. Meistens aber verdanken wir unserer Religion sehr viel. Daher sollten wir diese Religion, wo immer sie erstarrt, wieder beleben.
 

„Sagst du Dao, verschwindet‘s. Gibst du ihm einen Namen, kennst du’s schon nimmer.“

Sinnsprüche im Daodejing

Das Daodejing enthält 81 Sinnsprüche. Viele wirken rätselhaft, sogar widersprüchlich. Was haben sie mit der christlichen Religion zu tun?

Auf jeder Seite finden wir Aussprüche, die auch auf das Christentum anwendbar sind. Gleich in den ersten Zeilen: „Sagst du Dao, verschwindet‘s. Gibst du ihm einen Namen, kennst du’s schon nimmer.“ Das gilt für Gott: Sagst du Gott, verschwindet Gott. Wir müssen also in unserem Herzen suchen! Natürlich ist auch hilfreich, was andere über Gott gesagt haben. Darum steht man ja in einer religiösen Tradition. Aber letztlich müssen wir es immer selbst machen. 

Wie deuten Sie diesen Spruch: „Dreißig Speichen hat das Rad, leer ist die Nabe, um die es sich dreht (…) Besitz ist, was da ist, aber der Nutzen, der kommt von dort, wo nichts ist.“

Das ist doch schön! Dieses Nichts ist letztlich, was wir Gott nennen. Weil Gott nicht „etwas“ ist, sondern alles in allem. So heißt es auch im Neuen Testament: Am Ende wird Gott alles in allem sein. (1 Kor 15,28)
 

„Dreißig Speichen hat das Rad, leer ist die Nabe, um die es sich dreht (…) Besitz ist, was da ist, aber der Nutzen, der kommt von dort, wo nichts ist.“

Daodejing: Gott ist keine Person

Wir sind es aber gewöhnt, Gott persönlich anzusprechen, zu ihm zu beten …

Es ist das große Geschenk des Christentums, dass wir Gott als liebenden Vater oder Mutter anreden können. Aber Gott ist keine Person wie Sie und ich. Gott ist in allen, alles in allem. Das Geheimnis ist eben, dass wir zu dem Gott, in dem wir leben, auch eine persönliche Beziehung haben können – wie man sie zu Eltern hat. 

Krieg im Daodejing

Im Daodejing gibt es auch kriegerische Äußerungen. Was heißt das für unsere Zeit?

Wir leben in einer Zeit des Bewusstseinswandels. Das Daodejing genauso wie die Bibel gehören einer anderen Bewusstseinsstufe zu. Das lässt sich nicht leugnen. Für uns sind Krieg und Gewalt keine Option. Wir müssen unserer Bewusstseinsstufe treu sein. Es ist offensichtlich: In einer Welt, in der so viele Atomwaffen aufgestapelt sind, ist es nur der Gnade Gottes zu verdanken, dass wir uns noch nicht alle zerstört haben. Wir sind Schlafwandler! Aufwachen, aufwachen!
 

Der Fließweg - Daodejing

Dao heißt übersetzt „der Weg“. Warum hat Ihr Buch den Titel „Der Fließweg“?

Das ist ein Wort, das mir sehr lieb ist. Der Fließweg meint die mittlere und stärkste Strömung eines Flusses. Im Daodejing kommt es immer wieder darauf an, sich auf den Strom des Lebens einzulassen. Auch das frühe Christentum und Jesus Christus werden „der Weg“ genannt. Aber der Weg darf nicht auf Jesus Christus beschränkt werden. Der Weg ist alles, was zu Gott führt. 

Buchtipp:

Der Fließweg. Gedanken zum Daodejing des Laozi

Bruder David Steindl-Rast ist Benediktiner, spiritueller Lehrer und ein Pionier im Dialog der Religionen. Sein neues Buch hat er zusammen mit dem Schweizer Balts Nill geschrieben: „Der Fließweg. Gedanken zum Daodejing des Laozi“, 
erschienen bei Tyrolia, 
176 Seiten, 
ISBN 978-3-7022-4177-3, 
EUR 23,– 

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Sommergespräch: Bruder David Steindl-Rast

Das ganze Interview hören Sie am Montag, 12. August 2024, um 17:30 Uhr auf radio klassik Stephansdom. ▶ radioklassik.at

Autor:
  • Portraitfoto von Stefanie Jeller
    Stefanie Jeller
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