Bioethik: Wie gehen wir mit dem Leben um?
Serie zur BioethikUniv.-Prof. Günther Pöltner über den Beginn des menschlichen Lebens, grundlegende Kriterien der Bioethik und Menschenwürde.
2009 schrieb Papst Benedikt XVI.: "Der wichtigste und entscheidende Bereich der kulturellen Auseinandersetzung zwischen dem Absolutheitsanspruch der Technik und der moralischen Verantwortung des Menschen ist heute die Bioethik." Denn dort stünde auf radikale Weise die Möglichkeit einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung selbst auf dem Spiel. Wo stehen wir heute?
Günther Pöltner: Die Situation hat sich verschärft. Der Absolutheitsanspruch der Technik wirkt sich auf das Selbstverständnis des Menschen aus. Der Mensch des wissenschaftlich-technischen Zeitalters versteht seinen Leib und damit sich selbst primär als ein nach selbstgesetzten Zwecken beliebig gestaltbares Material. Die Berufung auf die moralische Verantwortung gegenüber dem Anspruch technischer Machbarkeit wird in dem Maße bodenlos, in dem ethische Kategorien in technische uminterpretiert werden und Handeln auf Herstellen reduziert wird. Dann kann nämlich all das verantwortet werden, was nicht bloß jetzt, sondern erwartbarerweise in Zukunft herstellbar ist. Die Sinnfrage - und Frage der Verantwortung, di edamit zusammenhängt - erübrigt sich. Die Bioethik ist ein Spiegel dieses Dilemmas.
"Ich bin selbst schon da gewesen, bevor ich geboren war, und habe nicht erst mit der Geburt begonnen zu leben."
Wenn man von der "Würde der menschlichen Person" spricht, worum geht es da konkret?
Der Mensch besitzt Würde, weil er ein Wesen der Freiheit sein kann, d.h. dem in sich Sinnvollen Raum geben kann. Es handelt sich dabei um ein prinzipielles, mit dem Menschsein bereits gegebenes Können, dessen faktische Ausübung an entsprechende Bedingungen gebunden ist. Die Würde hängt demnach nicht vom Besitz sogenannter "moralisch relevanter Eigenschaften" wie z.B. Bewusstseinsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit ab, sie ist nicht ein Gegenstand der Zuerkennung, sondern der Anerkennung. Sie kann Menschen niemals genommen werden - weder durch Missachtung noch durch Krankheit oder sonstige äußere Umstände. Die oft zu hörende rede vom Verlust der Würde ist das Ergebnis einer Zuschreibung durch Dritte und hängt von Umständen ab.
Wann beginnt das menschliche Leben?
Die Frage muss anders lauten, weil nicht menschliches Leben lebt, sondern allemal ein Mensch: Jemandes Leben hat begonnen. Auch ist zwischen Anfang und Beginn zu unterscheiden. Anfang meint die Grundlegung eines Ganzen hinsichtlich seines Ganzsein-Könnens, die Eröffnung des ganzen, sich zeitlich erstreckenden Menschenlebens. Beginn meint hingegen die ersten beobachtbaren Erscheinungsformen des Ganzen. Mit dem Beginn hat das Ganze bereits zu sein angefangen. Der Beginn wird im Lauf des Lebens zu etwas Gewesenem, der anfang niemals. Es mag Zweifelsgründe theoretischer Art geben, aber diese theoretischen Zweifel können nichts daran ändern, dass im Zweifelsfall der moralisch sicherere Weg einzuschlagen ist. Demnach ist der Beginn mit dem Abschluss des Befruchtungsprozesses gleichzusetzen. Ein "Nicht-wissen-ob" ist nicht identisch mit einem "Wissen-dass-nicht".
"Ich habe nicht erst mit der Geburt zu leben begonnen."
Muss daher dem vorgeburtlichen Leben derselbe unbedingte Schutz zukommen wie dem geborenen Menschen?
Der Schutz des Menschenlebens ist so unteilbar wie dieses selbst. Also genießt das Leben eines noch nicht geborenen Menschen denselben Schutz wie das eines geborenen. Ein Menschenleben schützen kann ja nur heißen, das Leben eines Menschen und also diesen selbst schützen. Meine Eltern haben mich selbst gezeugt und nicht einen Vorläufer, der sich im Laufe der Zeit in mich verwandelt hat. Also bin ich selbst (und nicht etwas anderes) schon dagewesen, bevor ich geboren war und bevor ich zu mir habe "Ich" sagen können. Ich habe nicht erst mit der Geburt zu leben begonnen.
Was ist das grundlegende ethische Kriterium in der Bioethik? Gibt es ein solches überhaupt?
Es empfiehlt sich, zwischen Prinzipien, Kriterien (Vorzugsregeln) und Normen des handelns zu unterscheiden. Prinzip des handelns ist die Achtung der Menschenwürde. Die Menschenwürde ist nicht Gegenstand einer Abwägung, sondern deren Basis. Handlungskriterien und damit Abwägungsgesichtspunkte lassen sich im Blick auf die Grunddynamik der menschlichen Natur, d. i. in der Form ihrer Interpretation durch die praktische Vernunft gewinnen. Das als gut Erkannte ist zu tun, das als schlecht Erkannte ist zu unterlassen. Auf diese Weise ergeben sich inhaltliche Rahmenbedingungen für die Ermittlung von Handlungsnormen. Die konkreten Handlungsnormen ergeben sich im Blick auf das gesellschaftliche und persönliche Ethos und dem daraus sich ergebenden Lebensentwurf.
Was ist Bioethik?
Bioethik ist die ethische Reflexion über das Verhalten des Menschen gegenüber dem "Leben" (griech. bios) im Lichte moralischer Werte und Prinzipien. Der Begriff wurde in den 1970er Jahren in den USA geprägt. Nicht alles, was faktisch möglich ist, ist auch gut für den Menschen und ethisch erlaubt. Die ethische Urteilsbildung führt zur Bewertung der Sittlichkeit bestimmter Handlungen im Umgang mit Leben - mit Blick auf die Würde der Person und die Folgen für die Gesamtheit. Was ethisch erlaubt ist, kann nicht mit rein biowissenschaftlichen Methoden beantwortet werden. Dazu braucht es eine ethische Reflexion. Die Bioethik umfasst Themen von den Biowissenschaften bis zur Gesundheitsversorgung: Embryonenforschung, Gennmanipulation, künstliche Befruchtung, Beihilfe zum Suizid, usw. aber auch Fragen der gereichten Verteilung von Ressourcen im Gesundheitswesen oder Organtransplantation.
Susanne Kummer, IMABE (Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik)
Wie kann eine Instrumentalisierung der Wissenschaft verhindert werden, die im Bereich der Bioethik leicht in Willkür, in Diskriminierung und in das wirtschaftlich eInteresse des Stärkeren zu verfallen droht?
Der Mensch des wissenschaftlichen Zeitalters ist vom Willen zur Macht beseelt, einem Willen, der vor nichts - also auch nicht vor dem Menschen selbst - halt machen kann. Zu den Mitteln der Erhaltung und Steigerung dieses Bemächtigungswillens zählt die Wissenschaft. Eine Instrumentalisierung der Wissenschaft - sie kommt ihrer Degradierung gleich - wird sich so lang enicht vermeiden lassen, so lange sich nicht di eGrundeinstellung des Menschen zur Wirklichkeit und damit zu sich selbst wandelt, und er nicht aufhört, Vernunft mit Zweckrationalität gleichzusetzen und Sinn mit Zweck zu verwechseln.
Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Günther Pöltner lehrte Philosophie an der Universität Wien.
ACHTUNG: Dieser Artikel ist in der Ausgabe Nr. 27 am 10. Juli 2016 erschienen.