Armenien: Weltkulturerbe in Gefahr
SommergesprächNach der Kapitulation der armenischen Region Bergkarabach im vergangenen Herbst fühlen sich die Menschen hilflos, „aber nicht hoffnungslos“, betont sie.
Leben im Grenzgebiet in Armenien
Wie geht es den Menschen in den Grenzgebieten Armeniens?
Jasmine Dum-Tragut: Es herrscht Unsicherheit und Hilflosigkeit angesichts dessen, was passiert ist. Die ältere Generation kennt noch die Sowjetzeit, als die Beziehung zu den Aserbaidschanern friedlich war und man noch miteinander gelebt hat. Das hat sich sehr krass geändert. Aber ich würde nicht sagen, dass die Menschen ohne Hoffnung sind. Für die Armenier war es immer wichtig, ein unabhängiges Volk zu bleiben. Trotz allem, was sie in ihrer jahrtausendelangen Geschichte erlebt haben, ist immer eine Hoffnung geblieben. Sie sagen, wir müssen vorwärtsschauen, wir werden das auch überwinden.
„Wir dürfen nicht vergessen, dass Armenien das erste christliche Land der Welt war.“
Immer wieder warnen Sie, dass die Kulturgüter in der Enklave Bergkarabach (armenisch: Arzach) in Gefahr sind. Das Gebiet ist verlassen, 100.000 Armenier sind geflüchtet. Welche Rolle spielt Karabach für die Armenien?
Wir dürfen nicht vergessen, dass Armenien das erste christliche Land der Welt war, laut Tradition seit 301. Es gab sehr früh eine eigene Schrift und ein eigenes Kirchenoberhaupt. Diese frühchristliche Tradition ist nicht nur im eigentlichen Armenien zu sehen, sondern auch im Osten, etwa im Bergland von Arzach. Wir haben dort Kirchen und Klöster, die auf das 4. und 5. Jahrhundert zurückgehen. Vieles ist noch unerforscht. Arzach war häufig das Rückzugsgebiet für den armenischen Adel. Daher hat es eine wichtige kulturelle Bedeutung. Ich sehe hier nicht nur einen besonderen Schatz des Christentums, sondern ein Weltkulturerbe.
Weltkulturerbe in Armenien in Gefahr
Das alles steht auf dem Spiel. Muss man annehmen, dass Aserbaidschan die armenische Geschichte vergessen machen will?
Leider blicken die Armenier auf viele negative Erfahrungen zurück. Bereits zu Friedenszeiten wurden auf aserischem Boden 28.000 armenische Kulturgüter völlig ausradiert, darunter Kirchen, Klöster und Kreuzsteine aus dem Mittelalter. Was jetzt in Karabach passiert, wissen wir genau genommen nicht. Wir haben keinen Zutritt mehr. Dass die berühmte „Grüne Kirche“ von Schuschi zerstört wurde, zeigen Satellitenbilder. Das heißt, es steht auf der Agenda der aserbaidschanischen Regierung, die Spuren der Armenier zu löschen und ihre eigene Geschichte neu zu schreiben.
Sie leiten seit kurzem eine Forschungsabteilung an der Akademie der Wissenschaften in Jerewan. Was machen Sie genau?
Mein Team von derzeit fünf Wissenschaftlern betreibt Feldforschung. Das kann im dichten Wald sein oder in der Halbsteppe. Wir arbeiten u.a. in Tawusch, wo jetzt die Grenze neu gezogen wird. Dort gibt es z. B. ein Dorf mit Siedlungsresten aus dem 10. bis 12. Jahrhundert, einem wunderschönen Kloster und zehn Kirchen. Wir vermessen, fotografieren, nehmen Inschriften ab. Aber wir fragen auch in der Bevölkerung nach Riten und Geschichten, also nach dem immateriellen Kulturerbe. Oft ist es ein Felsen, eine Quelle oder ein Kreuzstein, wo die Menschen beten und eine Kerze anzünden.
Bedeutung des armenischen Kreuzsteins
Welche Bedeutung hat der berühmte armenische Kreuzstein?
Der Kreuzstein gilt als heilig. Es gibt Tausende davon. Es sind Steinblöcke, in die ein Kreuz gemeißelt ist. Vom unteren Arm geht ein Lebensbaum hervor. Deshalb nennt man sie auch blühende Kreuze. Sie stehen für das Spezifische der armenischen Kultur: ihre Lebenskraft.
Armenien: Flucht aus Karabach
Die Frankfurter Stephanusstiftung hat Sie vor kurzem für ihren Einsatz für verfolgte Christen mit einem Preis ausgezeichnet …
Das hat mich überrascht und berührt. Meine Forschung ist mir wichtig, aber sie soll den Menschen zugutekommen. Während des Exodus aus Karabach habe ich eine Hilfsaktion für die Vertriebenen gestartet. Ich verstehe mich als Wissenschaftlerin mit Hirn und Herz.
Zur Person
Jasmine Dum-Tragut leitet das „Zentrum zur Erforschung des Christlichen Ostens“ an der Universität Salzburg und hat seit 2023 eine Adjunktprofessur an der Akademie der Wissenschaften in Jerewan.
Sommergespräch: Jasmine Dum-Tragut
radio klassik StephansdomDas ganze Interview mit Jasmine Dum-Tragut hören Sie am Montag, 22. Juli 2024, um 17:30 Uhr.