Antisemitismus: Die Kraft der Erinnerung
Barbara StaudingerErinnerung ist ein zentrales Thema des Judentums und des Christentums, beide Religionen sind auch Erinnerungsgemeinschaften. „Erinnern“ hat mit „innewerden“ zu tun, mit „an etwas denken“. „Erinnerung“ warnt u. a. vor dem Vergessen und zielt auf das Gedenken und auf das Nachdenken über Vergangenes. Denn ohne Erinnerung fällt vieles dem Vergessen anheim. Auch das Gedächtnis spielt eine wichtige Rolle. Museen halten die Vergangenheit wach, sie sind bleibende Orte des Gedächtnisses. Gegenüber dem SONNTAG erläutert die Direktorin des Jüdischen Museums Wien, Barbara Staudinger, die Kraft der Erinnerung. Sie spricht am 17. Jänner bei den Theologischen Kursen in Wien zum Thema „Das Jüdische Museum Wien, der Krieg in Gaza und die nötige Solidarität“.
Passt in unserer geschichtsvergessenen Zeit „Erinnerung“ überhaupt zum Zeitgeist?
BARBARA STAUDINGER: Ich denke nicht, dass unsere Zeit besonders geschichtsvergessen ist. Sieht man sich die Geschichte an, lässt sich feststellen, dass immer gleichzeitig Geschichte(n) vergessen und erinnert wurde(n). Die Problematik liegt auch weniger im Vergessen von Geschichte als im falschen Erinnern, im Zurechtbiegen, im Lügen. Zu den Fake News wird eine Fake Past, wenn man so will, kreiert.
„Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte!“, heißt es schon im biblischen Buch Deuteronomium (32,7): Worin besteht die Notwendigkeit des Erinnerns?
Erinnern ist eine sehr menschliche Eigenschaft, die in der Endlichkeit des Lebens begründet ist. Erinnern ist für das Individuum wie auch für eine Gesellschaft wichtig, da sich daraus unsere persönliche und kollektive Identität entwickelt.
Warum braucht Erinnerung auch Orte der Vergewisserung, an denen sie sich festmachen lässt?
Erinnerungsorte können ganz unterschiedlich sein. Sie können reale Räume oder auch metaphorische Räume sein, ein Fotoalbum oder ein Tagebuch etwa. Erinnerungsorte helfen nicht nur dem Gedächtnis, sondern helfen auch, sich emotional zu erinnern.
Gilt dies für die persönliche Erinnerung oder auch für das kollektive Gedächtnis in allen Jahrhunderten?
Ja, es gilt sowohl für die persönliche als auch für die kollektive Erinnerung. Unterschiedlich sind die Räume, die für die kollektive Erinnerung auch öffentlich zugänglich sein müssen.
Wie und in welcher Form können jüdische Museen Antisemitismus, Rassismus und jeder Form von Diskriminierung entgegentreten?
Jüdische Museen zeigen die Geschichte aus der Perspektive einer Minderheit. Sie zeigen damit, dass es keine „allgemeine Geschichte“ gibt, in die sich andere integrieren müssen, sondern dass Eigenständigkeit und Integration nebeneinanderstehen können und das Besondere einer pluralistischen, modernen, demokratischen und weltoffenen Gesellschaft ausmachen.
„Wir wollen vermitteln,
dass jüdische Geschichte uns alle etwas angeht.“
Barbara Staudinger
Wie erreichen Sie gerade jene gesellschaftlichen Gruppen, in denen antisemitische Ideologien entweder schon verbreitet sind oder in denen sie sich etablieren könnten?
Antisemitismus ist in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitet. Ich finde es wichtig, sich bei der Antisemitismusbekämpfung nicht auf einzelne Gruppen zu beschränken, sondern einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz zu verfolgen. Dennoch: Menschen erreicht man, indem man sie konkret anspricht. Daher versuchen wir, Anknüpfungspunkte zur jüdischen Geschichte für unterschiedlichste Zielgruppen zu finden. Von Studierenden bis zu Fußballfans, von Kindern bis Seniorinnen und Senioren. Ziel ist es zu vermitteln, dass jüdische Geschichte uns alle etwas angeht, dass uns Antisemitismus deshalb nicht egal sein darf, weil er unsere demokratische Gesellschaft bedroht.
Warum ist ein „Nie wieder“ zu wenig?
„Nie wieder“ ist zur bedeutungslosen Phrase geworden, wenn nicht danach gelebt wird. Ein „Nie wieder“ bezieht sich auf „Nie wieder Faschismus“, „Nie wieder Dehumanisierung“, „Nie wieder Massenmord“. Und wie die Literaturwissenschaftlerin und Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger feststellte: „Man sagt ‚Nie wieder‘ und dann schauen Sie sich mal all die Massaker an, die inzwischen passiert sind. Es ist absurd zu sagen, es soll nicht wieder passieren.“
Worin liegen die Aufgaben einer Erinnerungskultur, die heute aus jüdischer Perspektive aktuelle Fragen verhandelt?
Erinnerungskultur heute sollte nicht so tun, als wäre das, was wir erinnern, das, was wir mit „Nie wieder!“ adressieren, nur in der Vergangenheit. Es ist in der Gegenwart und in der Zukunft. Und es sollte keine Erinnerungskultur sein, die sich ohne die Betroffenen erinnert.
„Die Nationalsozialisten haben Frauenfußball
verboten.“
Barbara Staudinger
Erinnerung läuft auch über Sprache. Ein konkretes Beispiel: Warum wurde jahrzehntelang von der „(Reichs-)Kristallnacht“ gesprochen oder geschrieben, bis sich endlich „Novemberpogrom“ durchsetzte?
Mehrere Begriffe und Werte der Nationalsozialisten haben sich erstaunlich lange gehalten. Wir zeigen z. B. in unserer Fußballausstellung „Superjuden“, dass die Nationalsozialisten Frauenfußball verboten haben – erst in den 1980er-Jahren hat er sich in Österreich wieder etabliert.
Ist das Reden über das, was geschehen ist, der vielleicht wichtigste Dienst, den wir gegen das Vergessen leisten können? Braucht es dazu „Geschichte(n) zum Nachfragen“?
Ich würde das darüber Sprechen nicht von einem demgemäß Handeln trennen wollen. Natürlich braucht es Geschichten zum Nachfragen, zum Nachdenken, zum Perspektiven-Erweitern. Aber es braucht auch ein Umsetzen.
Vom "Frieden" im Krieg
Das Jüdische Museum Wien stellt in Zeiten, in denen in Israel und Europa wieder Krieg geführt wird, „Frieden“ ins Zentrum einer Ausstellung im Museum Judenplatz (Wien 1). Der Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 macht die Allgegenwärtigkeit von Gewalt und Krieg auf tragische Weise deutlich und streicht die Aktualität der Ausstellung hervor. Ausgehend von verschiedenen Definitionen des Friedens spürt die Schau dem Verhältnis von Frieden und Judentum, Politik, Krieg, Feminismus und Gerechtigkeit nach. Bedenkenswert ist auch der Hinweis, dass erst der vom Judentum noch erwartete Messias den endgültigen „Frieden“ („Shalom“) bringen wird. Immer stehen jüdische Perspektiven im Vordergrund. Die Ausstellung möchte die zivilisatorische Errungenschaft des Friedens in Erinnerung rufen und versteht sich als Beitrag zu einer nur mangelhaft ausgeprägten Friedenskultur. Die Ausstellung präsentiert zahlreiche historische Objekte sowie moderne künstlerische Positionen.
Ein Kakibaum überlebte im August 1945 den Atombombenabwurf auf Nagasaki. Aus diesem Baum wurden Setzlinge gezogen, die im Rahmen von Kunst- und Friedensprojekten weltweit an Schulen und Friedensinitiativen verteilt wurden. Ein solcher Setzling ist im Museum Judenplatz zu sehen. Nach Ende der Ausstellungslaufzeit wird dieser Baum als Symbol des Friedens und der Verständigung im Wiener Stadtraum gepflanzt.