Antisemitismus: "Nie wieder" ist zu wenig.
Georg PullingGeorg Pulling ist stellvertretender Chefredakteur der Katholischen Presseagentur und Pressesprecher des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich.
Im Ökumenischen Rat der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) kommen 17 Kirchen zusammen. Auf der jüngsten Vollversammlung am 19. Oktober war spürbar, wie sehr der Wahnsinn, der die Welt zu umgreifen scheint, die Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen bewegt. Alle sind zutiefst besorgt, dass eine Eskalation des Konflikts im Nahen Osten letztlich die ganze Welt mit sich reißt. Schon jetzt sehen die Kirchen Frieden und Zusammenhalt in Österreich gefährdet. Der ÖRKÖ will kein Totengräber sein, doch es gilt, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten und den Anfängen zu wehren. Deshalb hat der ÖRKÖ in einer Erklärung die Menschen in Österreich zu gegenseitigem Respekt aufgerufen und dazu, alles zu unterlassen, was Spaltung, Hass und Gewalt fördert.
Der Antisemitismus ist nach dem 7. Oktober in einem bisher nicht für möglich gehaltenen Ausmaß nach Österreich zurückgekehrt, wie auch die Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde Wien bestätigte. In Wien getrauten sich beispielsweise jüdische Eltern in den ersten Tagen nach dem Hamas-Terror nicht mehr, ihre Kinder in die Schule zu schicken, in den sozialen Medien hat eine abscheuliche antisemitische Lawine das Land überrollt. Antisemitismus darf in Österreich keinen Platz haben. Hier gilt es, entschieden zu handeln. Behörden, Politik und Zivilgesellschaft und damit auch die Kirchen sind gleichermaßen gefordert. Und es darf auch nicht bei frommen Worten bleiben.
Am 9. November wird in Österreich wieder der Novemberpogrome von 1938 gedacht. Vor 85 Jahren wurden tausende Jüdinnen und Juden ermordet, verhaftet und misshandelt, unzählige Synagogen, Bethäuser, jüdische Geschäfte und Wohnungen zerstört. Was werden die Christinnen und Christen heuer am 9. November dazu sagen? Ein traditionelles „Nie wieder!“ ist angesichts der aktuellen Lage zu wenig. Zugleich gilt es festzuhalten: Man kann entschieden gegen Antisemitismus Position beziehen, uneingeschränkt zum Recht Israels auf Selbstverteidigung stehen – und zugleich Mitgefühl mit den unschuldigen Menschen in Gaza zeigen und eine politische Ordnung im Heiligen Land einmahnen, die für alle Menschen vor Ort ein Leben in Frieden mit Zukunftsperspektiven ermöglicht. Selbst wenn es Israel gelingt, die Hamas militärisch entschieden zu schwächen, ist das bestenfalls die Voraussetzung dafür, Raum für notwendige Lösungen zu schaffen
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