"Antisemitismus ist ein schwieriger, fast falscher Begriff"
Zum Tag des JudentumsSeit 15 Jahren lebt Yuval Katz-Wilfing mit seiner Frau und drei Kindern in Wien. In Israel geboren und aufgewachsen, absolvierte er dort den Militärdienst und studierte Informatik sowie Religionswissenschaft. Nach einem Aufenthalt als Jugendlicher in Oklahoma (USA) arbeitete er später in Österreich als Chip-Designer im Raumfahrt-Bereich und promovierte im Fach Judaistik in Wien. Seit 2020 ist er im Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit als Geschäftsführer in Wien tätig. Seit kurzem ist Katz-Wilfing auch Rabbiner, momentan „der einzige konservative Rabbiner in Österreich“. Wie er von der Informatik zur Religion gekommen ist? „Seit meiner Jugend war ich auch sehr an religiösen Fragen interessiert“, betont Yuval Katz-Wilfing gegenüber dem SONNTAG. In Oklahoma habe er die Religion neu entdeckt, auch sein Judentum neu gesehen, und zwar angesichts des „Bible Belt“, des „Bibel-Gürtels“ in den USA, einer Gegend, wo ein ausgeprägter evangelikaler Protestantismus dominiert. Und dies, obwohl Katz-Wilfing wusste, dass man „mit der Informatik mehr Geld verdient als mit der Religion“.
Strömungen zum Tag des Judentums
Sie sind nunmehr auch ein konservativer Rabbiner: Welche Strömungen gibt es im Judentum in Österreich, wie wird da unterschieden?
YUVAL KATZ-WILFING: Zu den drei Strömungen des Judentums hier in Wien zählen die Ultraorthodoxen und Orthodoxen, die Konservativen sowie die Liberalen oder besser: die Reformjuden. Wobei sich Ultraorthodoxe und Orthodoxe nochmals unterscheiden. Der Wiener Stadttempel zählt etwa zur Orthodoxie. Entscheidend sind immer der Umgang mit dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, wie auch Fragen des Kultes, der Liturgie. Es geht also zum einen um die verschiedenen Auslegungen und zum anderen um die jeweiligen Verpflichtungen, die sich für den Einzelnen daraus ergeben.
„Ich wollte immer mehr lernen und immer mehr verstehen.“
Yuval Katz-Wilfing
Stichwort Koordinierungsausschuss: Ist die christlich-jüdische Begegnung mehr als nur eine Sache der Fachleute. Wird auch die Basis erreicht?
Ganz bestimmt, sicher. Immer steht bei allen interreligiösen Aktivitäten die persönliche Begegnung, das Kennenlernen der anderen, besonders im Mittelpunkt. Ich sehe das schon bei meinen Kindern, wie sie mit ihren Schulkollegen leben. Das ist ein Teil des Lebens, dass man Menschen mit anderem Glauben, aus anderen Kulturen sieht und ihnen begegnet. Ich selbst habe meine Religion auch durch diese interreligiösen Erfahrungen neu entdeckt. Und dies weckte in mir das Interesse, weiter und immer mehr zu verstehen und weiter zu lernen. Gewiss, es gibt auch die Tendenz, den interreligiösen Dialog einfach den Fachleuten zu überlassen. Das ist aber nicht richtig.
Bedeutung des Tag des Judentums
Seit dem Jahr 2000 begehen die christlichen Kirchen in Österreich am 17. Jänner den „Tag des Judentums“ zum „bußfertigen Gedenken an die jahrhundertelange Geschichte der Vorurteile und Feindseligkeiten zwischen Christen und Juden und zur Entwicklung und Vertiefung des religiösen christlich-jüdischen Gesprächs“. Was bedeutet Ihnen dieser Tag?
Der „Tag des Judentums“ ist an sich ein christlicher Gedenktag, kein ausdrücklich jüdischer Tag. Gerade weil mir das Gespräch zwischen und mit den Religionen so wichtig ist, halte ich es für mich als Juden auch für notwendig und für eine Pflicht, die Begegnung zwischen Juden und Christen zu fördern und, wo immer es möglich ist, zu unterstützen. Mit den Christen haben wir eine sehr große gemeinsame und breite Basis – die Bibel und verschiedene theologische Gemeinsamkeiten. Und das fördert dann den Dialog zwischen uns und auch das Verständnis zwischen den Gruppierungen. Dies fehlt uns beispielsweise, wenn wir mit Atheisten diskutieren. Da fehlt manchmal das Verständnis für einen heiligen Text. Und oft natürlich auch das Wissen.
Was soll und muss Ihrer Ansicht nach getan werden, um das gegenseitige Verständnis zwischen Juden und Christen zu vertiefen?
Wir machen diese Arbeit der Verständigung und des Verstehens Tag für Tag im „Koordinierungsausschuss“. Ich weiß natürlich, dass wir vor allem ältere, interessierte und gebildetere Menschen ansprechen – mit unserer Zeitschrift, mit der Bibliothek, mit den Veranstaltungen. Deshalb ist auch unsere Zeitschrift mehr theologisch und akademisch geprägt. Wir versuchen aber immer neue Wege zu finden und zu gehen, um Begegnungen zwischen Juden und Christen zu ermöglichen. Für mich ist erstens die persönliche Begegnung mit anderen Menschen die wichtigste Form der Verständigung. Wir haben schon im Vorjahr und auch heuer einen Spieleabend gemacht, hier stand die Begegnung im Vordergrund, auf einem persönlichen und unkomplizierten Niveau. Zweitens geht es darum, die Menschen als kulturelle und religiöse Wesen kennenzulernen. Wir haben ein neues Spiel entwickelt, „Dialog Abraham“ für eher jüngere Menschen. Bei diesem Spiel gibt es verschiedene jüdische und christliche Zitate und man wählt eines aus. Und dann erklärt man die persönliche Beziehung zu diesem Zitat. Und dann entdecken die Mitspielenden dabei, dass auch andere Menschen eine religiöse Dimension, eine religiöse Seite haben. Drittens findet der Dialog auf theologischem Niveau statt, es geht um einen Austausch, um mehr vom anderen kennenzulernen und zu wissen, um ihn dann nochmals auch besser verstehen zu können.
„Statt von Antisemitismus will ich lieber von Israel-Hass sprechen.“
Yuval Katz-Wilfing
Antisemitismus nimmt rasant zu
Die Angst geht wieder um: Was bedeutet es für Christen, dass die Juden in Europa sich wieder fürchten? Dass der Antisemitismus laut Studien wieder rasant zunimmt? Wie kann dem auch in Europa wieder entflammten Antisemitismus begegnet werden?
Ich finde, dass Antisemitismus ein schwieriger, fast falscher Begriff ist, denn dieser Begriff wurde von sogenannten Antisemiten im 19. Jahrhundert erfunden. Daher will ich in diesem Zusammenhang lieber vom dreifachen Israel-Hass sprechen. Erstens kann man das religiöse Israel hassen, also alles, was mit der Religion des Judentums zu tun hat. Und dann gibt es zweitens einen modernen Volk-Israel-Hass, quasi den biologischen Hass auf Juden. Und drittens gibt es dann den politischen Israel-Hass, wie wir ihn gerade auch in Europa aktuell sehen und erleben, gerichtet auf den Staat Israel, aber auch auf jüdische Organisationen. Antisemitismus ist für mich daher nur eine schwache Bezeichnung für diesen dreifachen Israel-Hass. Es stimmt mich einfach traurig in diesen Zeiten, dass Jüdinnen und Juden in Europa in der Öffentlichkeit jüdische Zeichen und Symbole fast verstecken müssen, um nicht schlimmstenfalls angegriffen oder angepöbelt zu werden. Mit einer englischen Fahne kann man in Europa ohne Probleme umhergehen, aber eine israelische Fahne gilt in der Öffentlichkeit heute bereits als problematisch.
26. Tag des Judentums
Seit dem Jahr 2000 begehen die Kirchen Österreichs jeweils am 17. Jänner den „Tag des Judentums“. Als Gedenktag im Kirchenjahr führte der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich diesen Tag ein. Christinnen und Christen sollen sich ihrer Wurzeln im Judentum und ihrer Weggemeinschaft mit dem Judentum bewusstwerden. Zugleich lädt dieser Tag ein, an jüdischen Menschen und ihrem Glauben begangenen Unrechts in der Geschichte zu gedenken. Wie sehr sich der „Tag des Judentums“ in diesen Jahren etabliert hat, zeigen die vielfältigen Veranstaltungen und Gottesdienste in Österreich. Was mit einem „Gedenktag“ begonnen hat, wurde um einen „Lerntag“ erweitert, um einen „Tag des Lernens vom Judentum“. Entscheidend dabei ist, nicht über das Judentum zu lernen, sondern vom Judentum und besonders mit Jüdinnen und Juden.
„Tag des Gedenkens“: 13. Jänner, 18:15 Uhr – Bezirksmuseum Josefstadt (Schmidgasse 18, Wien 8) – Führung durch die Ausstellung „Ich wollte Wien liebhaben, habe mich aber nicht getraut“ (Lore Segal, 1928–2024).
19:00 Uhr – Bezirksmuseum Josefstadt. Grußworte von Bezirksvorsteher Martin Fabisch und Benjamin Nägele (Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde). 25 Jahre Gedenkarbeit – „Verlorene Nachbarschaft“. Gedanken zum Gedenken: Pfarrerin Julia Schnizlein, Gebete, musikalische Gestaltung: Mazeltov-Kapelle. Gemeinsam mit „Vernetzte Ökumene Wien“ und Verein „Betrifft: Neudeggergasse“. Kleine koschere Agape.
„Tag des Feierns“: 17. Jänner, 18:00 Uhr – Gottesdienst des Ökumenischen Rates der Kirchen in der Ruprechtskirche (Wien 1). Thema: „Du zeigst mir den Weg zum Leben. Dort, wo du bist, gibt es Freude in Fülle; ungetrübtes Glück hält deine Hand ewig bereit.“ (Psalm 16,11). Predigt: Bischöfin Maria Kubin (Altkatholische Kirche).
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