Alles hat seine Zeit

Adventserie – Teil 5
Ausgabe Nr. 51
  • Spiritualität
Autor:
Nehmen Sie den Kalender des ausklingenden Jahres und die Fotosammlung auf Ihrem Handy zur Hand. Nun gehen Sie Woche für Woche durch. Was war besonders schön?
Nehmen Sie den Kalender des ausklingenden Jahres und die Fotosammlung auf Ihrem Handy zur Hand. Nun gehen Sie Woche für Woche durch. Was war besonders schön? ©pixabay

„Leichtfüßig den Himmel entdecken“ – dazu laden wir mit der Adventserie von Petra Unterberger ein. Alltagserfahrungen und Gedanken verknüpft die erfahrene Seelsorgerin mit biblischen Geschichten. Gedichte, Gebete und Bilder für eine kleine Auszeit!

Mei, Oma, schau!“, ruft meine zweijährige Enkelin mit leuchtenden Augen und voller Begeisterung. Wir stehen um Mitternacht am Fenster des Wohnzimmers. Es ist – Sie haben es bestimmt schon erraten – der letzte Tag des Jahres und gleichzeitig der Beginn des neuen, noch unberührten. Eine Rakete nach der anderen erleuchtet den dunklen Nachthimmel mit bunten Sternen, die scheinbar auf die Erde fallen.

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Alles hat seine Zeit

Ich bin keine Freundin von Feuerwerken, lasse mich aber von der Freude und Begeisterung meiner Enkelin anstecken. Ich komme mit meiner ungestümen Freude in Kontakt, die uns ja alle von Geburt an begleitet. Mit meinen Gefühlen verbunden zu sein, mich selbst gut zu spüren, ist in diesem Fall ganz leicht. Bei Konflikten oder herausfordernden Situationen ist das nicht so einfach. Da greifen manchmal angelernte Verhaltensmuster wie Flucht oder Angriff. Zum einen, weil die Emotionen unangenehm sind. Zum anderen, weil das ursprüngliche Gefühl zumindest tabuisiert oder verboten war. So war es lange verpönt, öffentlich zu weinen. Auch heute noch verspüren viele Menschen Scham oder Wut, wenn die Tränen der Trauer über erlittenes Unrecht oder über eine verachtende Bemerkung fließen. Da gilt für manche die Devise: „Nichts wie weg“ oder „Angriff ist die beste Verteidigung“. Beide Aktionen verhindern, dass wir gut in Kontakt kommen mit uns selbst, mit dem, was uns guttut, oder mit dem, was wir brauchen. So kann man sagen, dass unsere ungeliebten Gefühle wie eine Alarmanlage funktionieren. Sie machen sich bemerkbar und werden immer lauter und unangenehmer, wenn wir nicht reagieren, wenn wir sie verdrängen oder sie einfach nicht wahrhaben wollen. 
 

Zeit für Emotionen

Ich habe vor einigen Jahren eine Clownausbildung mitgemacht. Der Leiter hat uns immer wieder in Gefühle wie Scham oder Angst geführt mit dem Auftrag, uns mit diesen Emotionen ganz zu zeigen. Die spannende Entdeckung dabei möchte ich mit Ihnen teilen: Immer da, wo es gelungen ist, dem Gefühl Raum und Ausdruck zu geben, hat es sich beruhigt und letztlich verabschiedet. Da, wo es versteckt, verborgen und überspielt wurde, ist es immer größer und drängender geworden. 

Im Buch Kohelet findet sich eine ähnliche Weisheit. „Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch“ können wir am Beginn des Buches lesen. Der Verfasser Kohelet beschreibt darin die Flüchtigkeit des Lebens, doch nicht in einer depressiven Stimmung. Nein, ganz im Gegenteil, Kohelet ermutigt dazu, das Leben zu genießen, die Stunde, die uns geschenkt ist, ganz zu durchleben und damit Glück zu erfahren – im Wissen, dass nichts so bleibt, wie es ist. Der größte Schmerz und das größte Glück, all unsere Gefühle und Körperempfindungen kommen und vergehen. Nichts bleibt, wie es ist. Gerade in bedrängenden und schwierigen Lebenssituationen können Kohelets Worte Trost und Hoffnung geben. Gleichzeitig fordert uns das Buch auf, über den Sinn unseres Daseins nachzudenken und für das Geschenkte dankbar zu sein. 
 

Alles hat seine Stunde

Im Kapitel 3 des Buches finden wir den bekanntesten Text, der mit den Worten beginnt: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben …“ (Kohelet 3,1–2). Ich mag diesen Text zum Jahreswechsel, weil er mich jedes Jahr neu ermutigt, das Kommende anzunehmen und jede Stunde so gut wie möglich und mit allen Sinnen zu durchleben.  

Gedicht und Gebet

das alte jahr
abgetragen wie ein liebgewonnenes kleid
zärtlich gleiten die finger
wehmütig über vergangenes
verblasste farben
erinnern an
so manche hoch-zeit
der geruch nach 
sonne, meer und 
unbeschwerter liebe
da ein riss
hängen geblieben 
am störrischen lebensast
ausgefranst
liebevoll glatt gestrichen
und unter tränen notdürftig zugenäht
an manchen stellen durch­gewetzt und verbraucht
fast durchsichtig
das liebgewonnene kleid
sorgfältig zusammenfalten
und in der herzkammer verwahren
denn das neue unberührte kleid 
wartet dir

 

Gott, du Lebendige, schenke mir den Mut und die Aufmerksamkeit im kommenden Jahr so gut wie möglich im Augenblick zu leben.
 

Buchtipp: Eine Handvoll Licht

Petra Unterberger, Eine Handvoll  Licht, Tyrolia, 224 Seiten, ISBN 978-3-7022-4210-7, EUR 24.–

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Die Autorin Petra Unterberger arbeitete bis zur Pensionierung als Pastoralassistentin in der Diözese Innsbruck.

Zur Person: Petra Unterberger

Die Autorin Petra Unterberger arbeitete bis zur Pensionierung als Pastoralassistentin in der Diözese Innsbruck. Die erfahrene Seelsorgerin begegnet in der geistlichen Begleitung vielen Menschen, die auf der Suche nach Sinn und einer ganzheitlichen christlichen Lebensgestaltung sind. Sie engagiert sich für die Rolle der Frau in der Kirche und für eine sensible Sprache in Spiritualität und Liturgie.

Autor:
  • Petra Unterberger
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